"Geheimgesetz": NSA-Überwachung basiert auf Reagan-Dekret
Die Massenüberwachung durch die NSA basiert größtenteils auf einem wenig beachteten Dekret aus dem Jahr 1981. Das geht aus Geheimakten hervor, in denen auch steht, was US-Geheimdienste unter "Informationssammlung" verstehen.
Die Überwachungsprogramme der NSA basieren mehrheitlich nur auf Regelungen von US-Präsident Ronald Reagan aus dem Jahr 1981. Das geht aus bislang geheimen Akten hervor, deren Herausgabe die American Civil Liberties Union (ACLU) und die MFIA der Yale Law School erreicht haben. Dass Reagans präsidiales Dekret 12333 eine juristische Säule der Überwachung ist, war bekannt, aber im Zuge des NSA-Skandals war ihm bislang die mit Abstand geringste Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dabei heißt es in einem NSA-Memo vom 19. Juni 2013 – also nach Beginn der Snowden-Enthüllungen: "Die NSA unternimmt die Mehrzahl ihrer Überwachungsaktivitäten ausschließlich unter den Befugnissen des Dekrets 12333."
Wie die ACLU eingesteht, ist diese Enthüllung nicht komplett überraschend, sieht die NSA doch einige der umfangreichsten bislang enthüllten Überwachungsprogramme von Executive Order 12333 legitimiert. Dazu gehört nicht nur die Überwachung von Handys und Smartphones in aller Welt, sondern auch der Angriff auf interne Leitungen von Google und Yahoo sowie die Sammlung von Millionen Adressbüchern und die komplette Telefonüberwachung in mindestens zwei Staaten. Viel überraschender sei allerdings, dass das zugrunde liegende Dekret bislang so wenig beachtet wurde und nicht einmal Teil der versprochenen – inzwischen aber fraglich gewordenen – Reformvorhaben sei.
Dabei gebe es zwischen dem Dekret und den beiden anderen Grundlagen der Überwachung – Abschnitt 215 des Patriot Acts und Abschnitt 702 des FISA Amendment Acts – einen ganz entscheidenden Unterschied. Da das Dekret 12333 direkt vom US-Präsidenten stammt und auch von der Exekutive implementiert wurde, gebe es so gut wie keine Kontrolle durch das Parlament oder die Gerichte, schreibt die ACLU. Stattdessen sei es im Geheimen ausgelegt worden und dadurch habe sich eine Art Geheimgesetz etabliert, das der Massenüberwachung durch die NSA zugrunde liege. Genau deswegen hatten mehrere US-Abgeordnete und Bürgerrechtler US-Präsident Obama vor ein paar Wochen in einem offenen Brief aufgefordert, alle geltenden und künftigen Auslegungen des Dekrets 12333 öffentlich zu machen, denn "Geheimrecht ist eine Gefahr für die Demokratie."
Neusprech der Geheimdienste
Die nun veröffentlichten Dokumente machen weiterhin deutlich, wie die Geheimdienste nicht nur die Öffentlichkeit mit einem abenteuerlichen Wortverständnis täuschen. So wird im "Intelligence law Handbook" erklärt, was man beim Militärgeheimdienst DIA unter "collection of information" versteht. Eingestanden wird zuerst, dass es "in die Irre führen kann", wenn man bestimmte Begriffe so versteht, wie sie allgemein benutzt werden. So bedeute "Informationssammlung" bei der US Army, die "Sammlung von Informationen für jeden möglichen Empfänger". Im Rahmen des Geheimdienstes gelten Informationen aber nur als "gesammelt", wenn sie von einem Analysten "im Rahmen seiner offiziellen Arbeit empfangen wurden und ein Angestellter durch eine bestätigende Handlung deutlich macht, dass er sie benutzen oder behalten will". "Sammlung von Informationen" heiße deswegen also nicht "Sammlung" (gathering") sondern eher "Sammlung, plus..." (gathering, plus").
Die unterschiedliche Vorstellung davon, ab wann eine Information als "gesammelt" gilt, war bereits in den vergangenen Monaten des NSA-Skandals offenbar geworden. Immer wieder hatten Verantwortliche der US-Geheimdienste und Politiker die Überwachungspraxis verteidigt. So viele Daten würden ja gar nicht gesammelt oder "berührt". Dass die so beruhigten normalen Bürger unter "Sammeln" etwas anderes verstehen, wurde zumindest bewusst in Kauf genommen. Wahrscheinlicher ist aber noch, dass die Umdeutung der Worte sogar vorgenommen wurde, um derartige Missverständnisse herbeizuführen und die Debatte zu erschweren.
Ausnahmen vom Überwachungsverbot
Ein weiterer Punkt in den neu veröffentlichten Dokumenten, der für Diskussionen sorgen dürfte, sind 16 Ausnahmen, in denen die Defense Intelligence Agency sogar US-Personen überwachen darf. Eigentlich sollten die vor Überwachung geschützt sein. Laut einem Leitfaden darf die DIA – und damit mutmaßlich auch andere Geheimdienste wie die NSA – aber öffentlich verfügbare Informationen sammeln. Hier gilt es zu bedenken, dass die zugrunde liegende Regelung aus einer Zeit weit vor den ersten sozialen Netzwerken stammt. Darüber hinaus dürfen Unternehmen überwacht werden, "von denen angenommen wird, dass sie eine irgendwie geartete Beziehung zu ausländischen Organisationen oder Mitarbeitern haben". Das könnte im Fall einer US-Firma schon gelten, wenn ein Ausländer angestellt ist.
An anderer Stelle wird in dem "Intelligence Law Handbook" noch erläutert, wann US-Bürger keine "vernünftige Erwartung auf Privatsphäre" haben und nicht durch die Verfassung vor Überwachung geschützt sind. In einer Auflistung steht unter anderem, dass das etwa für Nutzer eines "kabellosen Telefons" gilt. Auch die Einrichtung eines "pen registers" zur Überwachung der ein- und ausgehenden Telefonate eines Anschlusses verletzt demnach nicht das Recht auf Schutz vor staatlichen Eingriffen.
Insgesamt unterstreichen die veröffentlichten Dokumente die Aussagen von John Napier Tye, einem ehemaligen Mitarbeiter des US-Außenministeriums. Der hatte Ende Juli erklärt, das Dekret 12333 müsse als Grundlage für die weltweite Überwachung herhalten und unterliege keinerlei demokratischer oder juristischer Kontrolle. In dem auch von ihm unterzeichneten öffentlichen Brief an den US-Präsidenten Barack Obama heißt es, betroffen seien nicht nur in den USA garantierte Rechte: "Diese Aktivitäten untergraben die Rechte von Internetnutzern in aller Welt." (mho)