Gesichtserkennungsdienst Clearview AI bekämpft kanadisches Verbot

Mit fremden Gesichtsfotos verdient Clearview Geld. Weder Urheber noch Abgebildete haben zugestimmt. Jetzt ist ein Gericht in Vancouver am Zug.

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(Bild: Fractal Pictures/Shutterstock.com)

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Der biometrische Gesichtserkennungsdienst Clearview AI sträubt sich dagegen, Gesichtsfotos zu löschen, die es in Kanada ohne Zustimmung Betroffener gesammelt hat. Im Dezember haben die Datenschutzbehörden der Provinzen Alberta, Britisch-Kolumbien und Québec Clearview die Löschung befohlen und den Betrieb des Gesichtserkennungsdienstes auf Dauer untersagt. Dagegen geht Clearview AI nun gerichtlich vor.

Das Unternehmen möchte weder hinnehmen, dass kanadische Behörden Clearviews Gesichtserkennung verbieten, noch dass es bereits gesammelte Fotos löschen muss. Die Firma erachtet es für "unmöglich", die Bilder zu löschen. In erster Instanz zuständig für die Überprüfung des Bescheides der Datenschutzbehörde Britisch-Kolumbiens ist der dortige Supreme Court. Der dort eingebrachte Antrag auf Überprüfung hat automatisch aufschiebende Wirkung für den Bescheid der Datenschutzbehörde. [Update 18:23 Uhr:] Die Datenschutzbehörde Albertas hat heise online mitgeteilt, dass Clearview AI auch dort den Bescheid vor Gericht anficht. [Update 22:08:] Aus Québec haben wir nun ebenfalls die Bestätigung, dass Clearview AI auch dort ein Gericht angerufen hat. [/Update]

Mehr als drei Milliarden Gesichtsfotos hat das New Yorker Unternehmen Clearview AI im Internet zusammengesucht. Damit hat es einen Gesichtserkennungs-Algorithmus trainiert, den es vermietet. Allerdings hat die Firma gar nicht erst versucht, die Zustimmung der Betroffenen einzuholen. Clearview AI vertritt den Standpunkt, nichts anderes zu sein als eine Suchmaschine für Bilder, so wie Google Bilder. Die kopierten Bilder seien öffentlich verfügbar, also sei alles legal.

Im Februar 2021 hat die kanadische Datenschutzbehörde offiziell festgestellt, dass Clearviews Gesichtserkennung in Kanada illegal ist. Die Behörden Australiens, Frankreichs und Großbritanniens haben ähnliche Feststellungen getroffen. Das Unternehmen hat seinen Dienst zwar für kanadische Kunden pausiert, möchte den Betrieb aber wieder aufnehmen.

Bis Juni 2020 hat Clearview AI seinen Gesichtserkennungsdienst gegen Bezahlung an die Königlich-Kanadische Berittene Bundespolizei (RCMP), und über kostenfreie Testzugänge an tausende Nutzer in Kanada vertrieben. Dazu gehörten etwa Apothekenketten, dutzende lokale Polizeibehörden, Versicherungsbehörden und so weiter.

Die lokalen Polizeibehörden hatten zunächst abgestritten, den Dienst zu nutzen, nach einem Datenleck auf dem Clearview-Server aber einräumen müssen, die Testzugänge doch verwendet zu haben – angeblich ohne Wissen der Polizeichefs. Der Einsatz durch die RCMP ist besonders brisant, weil die Bundespolizei der Bundesdatenschutzbehörde zugesichert hatte, Gesichtserkennung erst nach Abschluss einer Technikfolgenabschätzung hinsichtlich Datenschutz einzuführen – dann aber einfach bei Clearview AI eingekauft hat.

In seiner am Montag veröffentlichten Eingabe beim Supreme Court of British Columbia bringt Clearview eine lange Reihe Argumente vor: Weil das Unternehmen keine Einrichtungen oder Mitarbeiter in Britisch-Kolumbien habe, sei die Behörde gar nicht zuständig, zudem sei ihr Bescheid unzureichend begründend, und so formuliert, dass unklar sei, wie Clearview AI ihn überhaupt erfüllen könne. Anders als von der Behörde entschieden, will Clearview AI mit seinem Gesichtserkennungsdienst einen legitimen Zweck verfolgen: Das Aufspüren von Verbrechern und Opfern.

Entgegen weiterer Feststellungen der Behörde handle es sich bei den Fotos, die Clearview bei Sozialen Netzwerken abgestaubt hat, um öffentliche Daten, womit das kanadische Datenschutzgesetz PIPA gar nicht anwendbar sei, meint die Firma. (Was Clearview nicht erwähnt: Google, LinkedIn, Meta, Twitter und YouTube haben den Fotosammler mit Unterlassungsaufforderungen eingedeckt, weil das Abgreifen der Nutzerbilder gegen die Nutzungsbestimmungen deren jeweiliger Dienste verstößt. Anmerkung.)

Überhaupt sei der Bescheid der Datenschutzbehörde "unreasonable" (etwa: unbillig, unvernünftig, unangemessen). Sollte die Behörde das Datenschutzgesetz jedoch korrekt ausgelegt haben, seien die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes als verfassungswidrig aufzuheben. Konkret beruft sich Clearview AI auf Paragraph 2 litera b) der Kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten. Dieser Abschnitt garantiert Rede- und Pressefreiheit.

Der Begriff "(un)reasonable" ist im kanadischen Verwaltungsrecht wichtig, aber nicht exakt definiert. Im vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass kanadische Gerichte Verwaltungsbehörden weiten Spielraum bei der Interpretation jener Gesetze geben, die zur Kernkompetenz der jeweiligen Verwaltungsbehörde zählen. Sofern das jeweilige Gesetz keine anderslautenden Bestimmungen enthält, prüft das Gericht nicht, ob die Verwaltungsbehörde ihre Fachnormen völlig korrekt interpretiert hat, sondern bloß, ob ihre Auslegung "reasonable" war.

Damit erspart sich das Gericht, sich in Fachwissen zu vertiefen; es nimmt an, dass sich die Fachleute der Verwaltungsbehörde in Fachfragen besser auskennen. Das erleichtert es Verwaltungsbehörden, ihre Entscheidungen vor Gericht zu verteidigen. Clearview AI wird also zeigen müssen, dass die Datenschutzbehörde das Datenschutzgesetz nicht nur inkorrekt, sondern überhaupt "unreasonable" ausgelegt hat.

Weil die Charta der Rechte und Freiheiten kein fachspezifisches Gesetz ist, würde für diese Argumente schon ausreichen, zu zeigen, dass die Bestimmungen des Datenschutzgesetzes tatsächlich verfassungswidrig sind. Allerdings wird die Redefreiheit in Kanada nicht so radikal ausgelegt wie in den USA. Gesetze, die die Redefreiheit einschränken, sind zulässig, solange sie "reasonable" und in einer freien und demokratischen Gesellschaft rechtfertigbar sind.

Das Verfahren heißt Clearview AI v. Information and Privacy Commissioner for British Columbia und ist unter dem Az. S-220204 beim Supreme Court of British Columbia in Vancouver anhängig.

(ds)