Hessen geht bei Behandlung von Computerspielsucht voran

Mitarbeiter der freien Wohlfahrtspflege widmen sich in vielen hessischen Beratungsstellen inzwischen der zunehmenden Computerspielsucht-Problematik. In Darmstadt wurde eine Selbsthilfegruppe für Eltern computerspielsüchtiger Kinder gegründet.

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Von
  • Peter-Michael Ziegler

Wenn die besten Freunde des Sprösslings Blutelfen, Trolle und Orcs sind, machen sich viele Eltern Sorgen. Denn ihr Kind spielt World of Warcraft am Computer. Das Online-Rollenspiel birgt nach Einschätzung von Experten die größte Suchtgefahr. Die Kinder sitzen nur noch vor dem Computer, verlassen das Zimmer – wenn überhaupt – zum Essen, die Schule wird abgebrochen und Freunde vernachlässigt. So beschreibt Claudia Kraemer die typischen Anzeichen einer Computerspielsucht. Kraemer ist Leiterin des Selbsthilfebüros Darmstadt der Paritätische Projekte gGmbH und hat die erste hessische Selbsthilfegruppe für Eltern computerspielsüchtiger Kinder ins Leben gerufen. Eltern stehen vor einem Problem, sagt Kraemer: "Weil Computer und Internet zur heutigen Zeit gehören, können sie sie kaum verbieten. Den Zustand unverändert lassen, wollen und können sie aber auch nicht."

Hilfe für Computerspielsüchtige bietet in Hessen auch das Projekt "Netz mit Webfehlern" an. Das Projekt sei bundesweit einmalig, verdeutlichte der Geschäftsführer der Landesstelle für Suchtfragen, Wolfgang Schmidt, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur dpa in Frankfurt. Seit Herbst 2008 würden in den Beratungsstellen der freien Wohlfahrtspflege Mitarbeiter für diese spezielle Problematik qualifiziert. In 26 der 80 Anlaufstellen gibt es seitdem Hilfsangebote bei Problemen mit oder Verdacht auf Spielsucht. "Die Beratungsstellen sind flächendeckend über ganz Hessen verteilt, so dass die Wege kurz sind", sagt Schmidt. In Wiesbaden, Frankfurt und Kassel gebe es zudem einen Fachmann, der sich nur um Computerspielsucht kümmert. Das gemeinsam mit der Techniker-Krankenkasse erarbeitete und vom Land finanziell unterstützte Konzept beinhaltet auch Informationsveranstaltungen beispielsweise für Lehrer.

Zahlen zu tatsächlich Betroffenen und Beratungsgesprächen liegen derzeit noch nicht vor. "Wir haben erst in diesem Jahr angefangen, die Computerspielproblematik in die Statistik aufzunehmen", erklärt Schmidt. Aber es gebe eine steigende Anzahl der Fälle. Als Grund sieht Schmidt vor allem die technische Entwicklung: "Die virtuelle Welt wird immer realistischer und damit attraktiver." Dass Spiele wie World of Warcraft so gut wie nie endeten, verschärfe das Problem weiter. "Neben den Jugendlichen sind es vor allem die jungen Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 30, die sich in stationäre Behandlung wegen ihrer Sucht begeben", sagte Schmidt. Sie hätten oftmals ihre Jobs verloren, ihre Beziehungen seien gescheitert. Doch nicht nur Spielsüchtige kommen in die Beratungsstellen. "Oft suchen auch die Eltern Hilfe", weiß Schmidt.

Bei der Elternberatung arbeitet Claudia Kraemer vom Selbsthilfebüro Darmstadt mit dem Suchttherapeuten Horst Witt von der Fachklinik Fredeburg in Nordrhein-Westfalen zusammen. Witt bemerkt seit Jahren steigende Zahlen betroffener Kinder und Eltern. Denn meist führt das exzessive Spielen zu Konflikten in der Familie. Wenn diese in Aggressionen gipfeln, brauchten beide Parteien entsprechend Ruhe. Den betroffenen Jugendlichen – in der Regel seien es Jungen in oder nach der Pubertät – empfiehlt er eine stationäre Behandlung, bei der ihnen der Alltag wieder schmackhaft gemacht und nach den Gründen für die Flucht aus der Realität gesucht wird. Oft seien sie von den Eltern schon früh mit Fernsehen, Gameboy und Spielkonsolen beruhigt und an diese Medien gewöhnt worden. Aber auch die Eltern sollten sich Unterstützung suchen. Oft vernachlässigten sie ihr eigenes Leben wegen des Stresses mit dem Kind.

Außerdem sieht Kraemer ein Generationsproblem: "Erwachsene sind mit dem Internet nicht immer so vertraut wie Jugendliche." Sie hätten Angst vor dem freien Zugang zu Gewaltspielen und Pornografie. Als Informationsmedium habe das Internet aber auch viele Vorteile und könne nicht generell verteufelt werden. "Es ist aber wichtig, dass sich Eltern diesem Konflikt stellen und eine Entscheidung treffen", betont Kraemer. "Kritisch wird es, wenn Eltern das Spielen am Computer verbieten", sagt Witt. Gerade in der Pubertät reize das die Kinder zusätzlich. Zudem flüchteten viele Jugendliche in die virtuelle Parallelwelt, weil ihnen Lob und Anerkennung fehlen. "Die gibt es beim Spielen sehr schnell und sehr einfach", sagt Witt. Von Level zu Level arbeiteten sich die Jugendlichen durch die digitale Welt. In den "Clans" werde ihnen zudem ein Gemeinschaftsgefühl vermittelt.

Paradox sei dabei, dass die Clans erfolgreich dasselbe machen, was die Eltern wirkungslos versuchen: Struktur in das Leben bringen. Das klappt vor allem durch Verabredungen zum Spielen. Einer dieser Clans ist der Verein "n!faculty". Der Vorsitzende Frank Pinter sieht in diesen Gemeinschaften, von denen es Tausende in Deutschland mit mehreren Millionen Spielern gebe, auch eine Sicherheitsmaßnahme zum Schutz vor der Sucht: "Gepaart mit einem Elternhaus mit Medienkompetenz und dem Willen der Erziehung, Alternativen für das Kind zu schaffen, sollte es ausreichen, um den Großteil der Spieler vor Suchtfallen zu bewahren", meint Pinter. (Marco Krefting, dpa) / (pmz)