Hilferufe im virtuellen Raum

In zahlreichen Suizidforen und Chaträumen im Internet wird über Selbstmordgedanken und Suizidmethoden diskutiert. Ärzte und Psychiater sind sich einig, dass die Seiten für depressiv Erkrankte Gefahren bergen.

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Von
  • Dietmar Telser
  • dpa

Die Hilferufe sind selten zaghaft und leise, sondern meist eindringlich und kaum zu überhören. In zahlreichen Suizidforen und Chaträumen im Internet wird über Selbstmordgedanken und Suizidmethoden diskutiert: ohne ärztliche Begleitung und in einer direkten und schonungslosen Sprache. Ärzte und Psychiater sind sich einig, dass die Seiten für depressiv Erkrankte nicht zu unterschätzende Gefahren bergen. Sie weisen aber auch auf Chancen einiger Foren mit Selbsthilfegruppen-Charakter hin.

Rund 10 bis 20 Suizidforen werden Schätzungen zufolge in Deutschland betrieben. Betreut werden die Websites von Laien, die meist anonym bleiben und ihre Seiten häufig über ausländische Server ins Netz stellen. Unter anderem werden Anleitungen zum Selbstmord geboten, Verabredungen zum geplanten Suizid getroffen oder Abschiedsbriefe veröffentlicht.

Gefährlich mache diese Foren aber vor allem die Art, wie über den Freitod kommuniziert wird, sagt Professor Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. So werde Suizid häufig dargestellt, als wäre die Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden, eine vollkommen freie. "Doch der Freitod als freie Willensentscheidung existiert nur in Romanen und nicht im wirklichen Leben", sagt Hegerl. Selbsttötungen geschähen in mehr als 90 Prozent der Fälle bei einer ernsthaften psychischen Erkrankung wie Depression, Schizophrenie oder auch Sucht. In den Foren werden diese medizinischen Aspekte aber meist ignoriert.

Tatsächlich wollen sich viele Forenbesucher gerade von Ärzten und Psychiatern abgrenzen. So sehen viele die Foren und Chats als einzige Möglichkeit, sich ohne Angst vor Unverständnis, Stigmatisierung oder ärztlichem Einschreiten über Selbstmord zu unterhalten. "Die Nutzer der Foren sind regelrecht eine verschworene Gemeinschaft", sagt Hegerl. "Es lassen sich Subkultur-ähnliche Merkmale beobachten."

Gerade dies birgt weitere Gefahren: "Im kleinen Zirkel dieser Gruppen wird der Selbstmord mystifiziert und jegliche Hilfe von außen abgewehrt", hat Professor Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München beobachtet. So könnten bekannte Kultfiguren, die durch Suizid verstorben sind -- wie der Leadsänger der amerikanischen Band Nirvana Curt Cobain -- als Vorbild genommen werden. Der Suizid könne als erstrebenswerte Lösung stilisiert und etwa durch Aufforderungen oder Verabredungen leicht gemacht werden.

Die konkreten Anleitungen zum Selbstmord sorgen dabei meist für die größte Entrüstung bei Nichtbetroffenen. "Für viele depressiv Erkrankte kann gerade während depressiver Episoden das Wissen über Suizidmethoden ausschlaggebend für die Entscheidung zum Selbstmord sein", sagt Hegerl. Georg Fiedler vom Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete (TZS) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) sieht das etwas differenzierter: "Wer sich selbst töten möchte, findet ohnehin genügend Anleitungen auf anderen Internetseiten. In Suizidforen ist das eigentliche Thema das Überleben mit der Selbstmordneigung." Der Austausch von Suizidgedanken könne dann auch eine stabilisierende Wirkung haben. Das Medium biete zudem die Chance, anonym mit Gleichgesinnten Ängste und Sorgen auszutauschen, ergänzt Thomas Bronisch.

Ein Verbot der Seiten ist letztlich juristisch schwierig, schließlich stellt Suizid keinen Straftatbestand dar. Außerdem stehen die Server der Foren häufig im Ausland. Durch gezielte Aufklärung und Hilfestellung für Jugendliche kann Bronisch zufolge ohnehin mehr erreicht werden. Psychologe Fiedler sieht das ähnlich: "Man sollte sich weniger fragen, wie diese Foren verboten werden können, als vielmehr, warum es ein so starkes Interesse für diese Seiten gibt." Dies zeige vor allem die Hilflosigkeit der Gesellschaft im Umgang mit dem Thema Suizid. Viele Forenbesucher würden keine andere Möglichkeit sehen, über das Tabuthema zu kommunizieren.

Angehörige von Suizidgefährdeten sollten daher ein Gespür für die Gefahren entwickeln und versuchen, die Sprachlosigkeit zu überbrücken. "Für Eltern ist dies jedoch meist besonders schwierig, da die Beziehung zu den Eltern selbst oft eine Rolle bei den Suizidgedanken des Kindes spielt", betont Fiedler. Notwendig sei es dann, professionelle Hilfe wie Ärzte, Beratungsstellen oder Psychiater in Anspruch zu nehmen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden empfiehlt bei angekündigten Selbstmorden, umgehend das zuständige Landeskriminalamt (LKA) zu informieren. "Das LKA kann einen Selbstmord so möglicherweise verhindern", meint BKA-Sprecher Gerhard Schlemmer. Psychologe Fiedler gibt allerdings zu bedenken, dass bei vielen, der im Internet geäußerten Suizidgedanken, kein Handlungsdruck besteht. "In manchen Fällen kann man mit einer polizeilichen Intervention auch Schaden anrichten." Dringend notwendig, wenn auch schwierig, sei es, die Kommunikation mit den Betroffenen zu suchen. Man solle zeigen, dass solche Gedanken keine Schande sind.

Das von LMU-Psychiater Hegerl betreute Forschungsprojekt Kompetenznetz Depression, Suizidalität bietet alternativ ein von einem Facharzt betreutes Forum an. In besonderen Gefahrensituationen werden Ratschläge per E-Mail gesendet oder der Kontakt zu einem Arzt hergestellt. Bedenkliche Beiträge werden von der Internetseite entfernt. Ob dieses Forum tatsächlich die Besucher der Suizidforen erreicht, bleibt jedoch fraglich. (Dietmar Telser, dpa) / (anw)