Hintergrund: Freie Bahn für AOL-Chef Case

Nach der Genehmigung der Fusion von AOL und Time Warner hat AOL-Chef Steve Case nun freie Bahn. Spannend bleibt, wohin sie ihn führt.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Richard Sietmann

Nach der Entscheidung der US-amerikanischen Regulierungsbehörde Federal Communications Commission FCC hat AOL-Chef Steve Case jetzt freie Bahn. Die Fusion von AOL und Time Warner zu AOL Time Warner kann nun vollzogen werden. Die FCC wie auch zuvor schon die Federal Trade Commission FTC haben ihm einige Fahrbahnmarkierungen in Gestalt von Auflagen vorgegeben, die anderen Verkehrsteilnehmern eine faire Chance im Wettbewerb sichern sollen, die ihn aber kaum beeindrucken werden.

Schiere Größe schafft sich ihre eigenen Trassen. Aus dieser in der Mediengeschichte beispiellosen Fusion geht ein Gigant hervor, der mit 80.000 Beschäftigten einen Umsatz von 36 Milliarden US-Dollar auf sich vereint. Der weltgrößte Online-Dienst mit 26 Millionen Teilnehmern übernimmt die Führung in dem weltgrößten Medienkonzern, der zugleich mit einem Marktanteil von 20 Prozent aller Haushalte die zweitgrößte Kabelgesellschaft der Vereinigten Staaten ist. Zu Time Warner gehört Time Inc. mit dem Wochenmagazin Time als Flaggschiff, Turner Broadcasting als Dachgesellschaft von CNN, die Warner Brothers Studios sowie die Warner Music Group mit der Pop-Ikone Madonna als Zugpferd in den Charts.

Mit den von Analytikern angeführten Bereinigung überlappender Geschäftsaktivitäten in dem weitverzweigten Firmengeflecht ist der Zusammenschluss allein nicht zu rechtfertigen. Das Volumen dieser Rationalisierungseffekte macht nach Schätzungen von Beobachtern allenfalls knapp drei Prozent vom Umsatz des zusammengelegten Konzerns aus. Zudem stellt dies nur einen einmaligen Effekt dar. Auch die Aussicht auf Marken- oder Marketingvorteile im Querverbund kann die Aktion nicht vollständig begründen. Dass dem Time Magazin nun verstärkt die ohnehin allgegenwärtigen AOL-CDs mit den zehn Freistunden beiliegen, oder umgekehrt die gezielte Werbung für Time bei AOL dem betagten Wochenmagazin 500.000 neue Abonnenten bescherte – das sind eher Peanuts als Argumente für eine Großfusion.

Der wirtschaftliche Kalkül hinter dem Zusammenschluss zielt vielmehr auf die Lösung eines Henne-Ei-Problems. In der einfachsten Fassung reduziert es sich auf die Frage: Treiben die Anwendungen den Ausbau der Kommunikationsnetze, oder die Dienste den Netzausbau voran? Wie sich herausstellte, haben es die Player tatsächlich mit drei Variablen – Content, Netze und Interaktivität – zu tun, von denen jede der anderen die Plattform für ein Geschäftsmodell liefern soll.

Die klassischen Netzbetreiber – Telefon- und Kabel-TV-Gesellschaften – sind auf den Content angewiesen. Für sie lohnt sich der Ausbau der Datenautobahnen, etwa durch leistungsfähige Glasfaseranbindungen der Haushalte, erst bei einem entsprechenden Angebot von attraktiven Inhalten, die auf die Akzeptanz zahlungswilliger Kunden stoßen. Nur: Klassischer Content in Gestalt von noch mehr Verteilfernsehen hat am Markt offensichtlich keine Chancen. Denn jeder zusätzliche Kanal reduziert den Anteil eines jeden am gesamten Werbeaufkommen. Die Inhalteanbieter müssen daher neue Wege der Marktdifferenzierung suchen.

Was an Vielfalt möglich ist, zeigen interaktive Netze, allen voran das Internet mit dem World Wide Web. Doch auch hier gibt es Wachstumsgrenzen in Gestalt der beschränkten Bandbreite, die gerade noch den Austausch von komprimierten Musikdateien zulässt, beim Videostreaming jedoch – momentan zumindest – passen muss. Wo jedoch Bandbreite pur vorhanden ist, in den Kabelnetzen, fehlt vielfach der Rückkanal, um wirklich eine schnelle Zweiwegekommunikation zu ermöglichen – ein Flaschenhals, den wiederum kein Onlinedienst oder Internet.Provider, nicht einmal AOL, im Alleingang überwinden kann.

Insofern ist der jetzt genehmigte Zusammenschluss von AOL und Time Warner für beide Beteiligten ein Befreiungsschlag, der Wachstumspotenziale erschließt, die jedem Player einzeln verwehrt bleiben. Die Frage ist, ob die Rechnung aufgeht und ob es Steve Case gelingt, in den höchst unterschiedlichen Firmenkulturen und Geschäftspraktiken Synergien zu wecken, die aus der wechselseitigen Blockade herausführen. Die Statistik hat er jedenfalls gegen sich. Einer im November veröffentlichten Studie des Marktforschungsinstituts KPMG zufolge gingen 83 von hundert der größten Firmenzusammenschlüsse zwischen 1996 und 1998 daneben und brachten den Anteilseignern keinen Wertzuwachs. Die Gründe, so die Analyse, waren "Mängel in der Planung oder in der Implementierung, oder beides". Größer ist halt nicht immer gleichbedeutend mit besser – Bertelsmann oder beispielsweise Telefonicas Terra/Lycos werden mit Sicherheit genau beobachten, wie gut Steve Case sich behaupten kann. (Richard Sietmann) / (prak)