Internet-Protokolle: Wie China IPv4 zugunsten von IPv6 ablöst
Experten werben seit Jahren fĂĽr den Umstieg auf IPv6. In China macht sich die Regierung wiederholt die Argumente von Fachleuten zu eigen und boxt sie durch.
- Monika Ermert
Führt IPv6 ein, Marsch! Das verfügten Staatsrat und Zentralkomittee der Partei Chinas erstmals schon 2017. Aber Ende Juli hat Chinas Geschäftsstelle des Zentralen Ausschusses für Cybersicherheit und Information das Tempo für den Umzug vom alten IPv4 auf das moderne IPv6 in einer Bekanntmachung noch einmal verschärft.
Besonders fällt auf, dass die Politik zwei Riesensprünge von Mobilfunknetzbetreibern fordert: Diese sollen ihren IPv6-Verkehrsanteil bis Ende 2023 auf 50 Prozent heben und bis Ende 2025 auf sogar 70 Prozent. Auch die Anbieter von staatlichen und großen kommerziellen Web-Sites müssen sich sputen: Sie sollen bis 2025 zu 95 Prozent per IPv6 abrufbar sein. Nur fünf Prozent Ausreißer werden toleriert, wobei offen ist, welche zum Stichtag zu den fünf Prozent zählen und was genau "wichtige kommerzielle Sites und mobile Internetangebote" sind.
Dem Festnetz gibt man etwas mehr Zeit und setzt einen Anteil von 15 Prozent fĂĽr IPv6 bis Ende 2023 und 20 Prozent bis Ende 2025 fest. Auch bei den Heimroutern ist man moderat und verlangt bis Ende 2025 nur 50 Prozent IPv6-Anteil. Insgesamt verordnet das Ministerium 700 Millionen aktive IPv6-Nutzer bis Ende 2023 und 800 Millionen Nutzerinnen und Nutzer bis 2025.
Vorgabe | umzusetzen bis 2023 | umzusetzen bis 2025 |
Zahl aktiver IPv6-Nutzer (in 100 Mio.) | 7 | 8 |
Zahl an IoT-Verbindungen (in 100 Mio.) | 2 | 4 |
IPv6-Anteil am Mobilverkehr | 50 % | 70 % |
IPv6-Anteil am Festnetzverkehr | 15 % | 20 % |
Anteil an WLAN-Routern mit IPv6 | 30 % | 50 % |
Regierungsseiten via IPv6 abrufbar | 80 % | 95 % |
wichtige kommerzielle Sites und mobile Apps via IPv6 abrufbar | 80 % | 95 % |
Anzahl innovativer IPv6+-Projekte | 100 | 500 |
Laut Erläuterung in den 30 Punkten des Amtstexts sollen Netze großer nationaler Unternehmen, aber auch von Firmen auf "der zweiten und darunter liegenden Ebenen", Rechenzentren, Online-Portale, die Seiten öffentlicher Serviceangebote und industrielle Anlagensteuerungen aufgerüstet werden.
Chinas Nutzen
Der Nutzen des neuen Protokolls für Chinas im ersten Halbjahr wieder rasant wachsende Wirtschaft ist offensichtlich. Weil die rund 4,3 Milliarden IPv4-Adressen aufgezehrt sind – nur Afrika verfügt noch über kleine Reserven –, braucht es IPv6 mit dem weit größeren Adressraum, damit die Pläne für Smart Cities und Internet of Things samt allgegenwärtiger Gesichtserkennung Gestalt annehmen.
Aber hat eine solche staatliche Verordnung Aussichten auf Erfolg? "Wir sprechen hier über China, das darf man nicht vergessen. Es scheint, als könnte dort praktisch alles verordnet werden," sagt Marco Hogewoning, Manager Public Policy and Internet Governance bei der europäischen IP-Adressvergabestelle RIPE.
Die Adressvergabestellen haben kürzlich die Zahlen zur weltweiten IPv6-Verbreitung vorgelegt. Demnach wächst IPv6 in Asien am schnellsten. China dürfte daran einen erheblichen Anteil haben. Aktuell hat die für Asien zuständige Adressvergabestelle APNIC noch weit weniger IPv6-Adressblöcke an Netzbetreiber, Firmen und Institutionen vergeben als die Vergabestellen in Lateinamerika und den USA. Doch in Asien wächst IPv6 schneller, sodass die APNIC bald vorne stehen dürfte.
Cyberpower
Noch 2018 zählten die US-Forscher Brenden Kuerbis und Milton Mueller vom Georgia Institute of Technology China zur einer Gruppe von 169 Ländern mit nur wenig IPv6-Verkehr. Aber etwa zwei Jahre später dokumentieren neue Messungen Chinas Aufholjagd.
Das bestätigen auch Xie Hongfeng, Li Cong, Ma Chenhao und Yuan Quanxin in einem Bericht des Netzbetreibers China Telekom. In dem 2020 bei der Internet Engineering Task Force erschienenen Dokument führen sie auf, dass ihr Unternehmen IPv6 erstmals 2001 getestet hat und ab 2012 Feldversuche zur Einführung in Metro-Netzen startete. Daraus hätten sich dauerhafte Angebote für 10 Millionen Nutzer entwickelt.
Doch so richtig los ging es erst mit dem Startschuss der Partei, berichten sie. "Der kommerzielle IPv6-Roll-out wurde besonders beschleunigt, nachdem die chinesische Regierung im November 2017 ihren IPv6 Action Plan startete. Danach wurde der Roll-out auf praktisch alle Teile der Netzinfrastruktur ausgedehnt, einschlieĂźlich der Cloud Computing Plattform" und "nach mehr als zwei Jahren ist IPv6 umfassend in der IP-Infrastruktur implementiert".
Auch die groĂźen Netzbetreiber China Mobile und China Unicom haben den Umstieg auf IPv6 in ihren Backbones und den LTE-Netzen vollzogen. Das meldete der Ingenieur Ke Ma des offiziellen chinesischen Expertenkomitees zum IPv6-Ausbau. Und von Juli bis November, so Ke Ma, habe der IPv6-Verkehr in Chinas LTE-Kernnetzen 1,399 TBit/s erreicht, was einem Zuwachs von 129 Prozent entspricht. Die Werte im Festnetz liegen nicht weit dahinter.
Indien von Platz eins verdrängt
Mehr als 1000 Content-Hosting- und Data-Center hätten mittlerweile die Übergangstechnik aus IPv4 und IPv6 (Dual-Stack) eingerichtet, 60 Prozent der CDNs sowie alle rekursiven DNS-Resolver der Internet-Provider seien IPv6-fähig, und die großen Cloudprovider wie Aliyun, Tencent und Huawei böten wichtige Dienste ebenfalls via IPv6 an. Die Regierung habe bis Ende 2018 bereits über 80 Prozent ihrer Seiten auf Provinz- und Ministerienebene aufgerüstet.
Zuletzt meldete die South China Morning Post, dass man Indien von Platz eins der Zahl der IPv6-Nutzer verdrängt habe. Noch im Juni 2020 sei man hinter den USA und Indien gelegen. "Inzwischen hat China Indien überholt und sich mit 528 Millionen Nutzern an die erste Stelle gesetzt." Wie belastbar diese Zahlen sind, ist schwer zu sagen. Experten geben zu Bedenken, dass westliche Messungen wie die der APNIC ungenau sein könnten, weil sie unter anderem Abrufe von Google Ads ermitteln – in China haben Google Ads aber keine große Bedeutung.
Im ersten IPv6-Plan von 2017 wollte China zur "Cyber-Großmacht" aufsteigen, wie es der Generalsekretär Xi Jinping dem Land verordnet hat. Der Nachfolgeplan warnt nun auch vor der Gefahr der stockenden Aufrüstung (Plateau-Phänomen), die auch manche westlichen Länder kennen. Daher gibt es neue Vorgaben.
Next-Generation-Internet
Zwei Dinge, die der neue IPv6-Plan erstmals nennt, sind der Umstieg vom Dual-Stack zu IPv6-only (Single-Stack) und "IPv6+-Mechanismen".
Ab 2023 sind für neue Netze IPv6-Single-Stacks verpflichtend und ab 2025 geben die Behörden dem Land noch "etwa 5 Jahre", bis alle Netze nur noch IPv6 verwenden. Chinesische Nutzer, die auf Inhalte in China zugreifen, dürften von den Änderungen nichts merken, glaubt IP-Experte Hogewoning, und das gelte auch für Nutzer im Westen, da diese chinesische Webseiten kaum nachfragen und IPv6 passabel verbreitet sei. Außerdem werde sich das Land nicht selbst von wichtigen IPv4-only-Diensten abschneiden.
Die Aufnahme von IPv6+ in den neuen Plan bereitet ihm Kopfzerbrechen. Die Verfügung lautet nämlich: "Unser Land wird zum wichtigen Motor für die Entwicklung der IPv6+-Technologie und des industriellen Fortschritts, die Innovation der Netz- und Informationstechnik wird deutlich verbessert." Erklärungen zu IPv6+ liefert Chinas Netzwerkausstatter Huawei in zahlreichen Expertenbeiträgen. Es gehe um die Fortentwicklung, da IPv6 "noch nicht das ganze Next-Generation-Internet ist", fasst ein Autor der China Academy of Information and Communications Technology (CAICT) zusammen. IPv6 sei nur Ausgangspunkt und Plattform für das Internet der nächsten Generation.
Ein weiterer Baustein sei das Segment Routing over IPv6 (SRv6, RFC 8986) fĂĽr den Aufbau automatisierter und vorausschauender Zuweisung von Netzressourcen. Letztlich gehe es darum, mittels KI und Big-Data-Analysen KundenwĂĽnsche und den Netzwerkstatus ad hoc zu verstehen, automatisch Ressourcen zuzuweisen und etwa Teile der Netzwerkinfrastruktur anwendungsbezogen und auf Abruf bereitzustellen (Network Slices) und automatisch zu routen.
Mickriges IPv4-Restangebot bremst IPv6 aus
Hogewoning hat sich kürzlich in einem Artikel gefragt, wie es kommt, dass sich trotz steigender Preise für das mickrige IPv4-Restangebot IPv6 nicht schneller verbreitet. Bisher kann nämlich nur rund ein Drittel der weltweiten Surfer IPv6 nutzen. Da der Markt das Problem nicht gelöst habe, könne man sich fragen, ob staatliche Interventionen Schwung bringen könnten. China macht nun vor, wie das aussehen kann. Andere Regierungen erwägen das immerhin.
Das US-Militär veröffentlichte Mitte Juni IPv6-Ausbaupläne. Bis Ende des vierten Quartals 2023 sollen mindestens 20 Prozent der Netzwerkgeräte IPv6-only arbeiten, bis 2024 sollen es 50 Prozent werden und bis 2025 80 Prozent. Der Unterschied zwischen beiden Modellen ist offensichtlich. Das US-Militär wirkt als Großeinkäufer wie ein Schwungrad für IPv6. Generalsekretär Xi verfügt den großen IPv6-Sprung mit einem Technologiemandat.
"Natürlich kennt man Mandate auch im Westen", erinnert Hogewoning. Das fast vergessene, paketorientierte X.25-Protokoll sei so eines gewesen. Ein Mandat für IPv6, so gerne er dessen Durchbruch sähe, wäre aber ein Rückschritt in die Zeiten der Bundespost und Zulassungskleber. "Es widerspricht der Philosophe des Netzes, das innovativ sein kann, wenn es frei ist."
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(dz)