Kassenärzte-Chef: "Pseudodigitalisierung" der Medizin, Neustart erforderlich

Der nötige E-Health-Neustart dürfe auch "die eine oder andere Milliarde kosten", findet Kassenärzte-Chef Andreas Gassen in einem Interview mit Funke Medien.

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(Bild: THICHA SATAPITANON/Shutterstock.com)

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In einem Interview mit den Zeitungen der Funke Medien Gruppe ließ der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen kaum ein gutes Haar an den bisherigen E-Health-Projekten in Deutschland. Er beklagte die geringe Akzeptanz der elektronischen Patientenakte (ePA) und bezeichnete das E-Rezept als nicht "wirklich reine digitale Lösung". Ein Neustart sei jetzt erforderlich. Der dürfe dann auch "die eine oder andere Milliarde kosten".

Bezüglich der ePA sagte Gassen, dass ohnehin kaum Patienten eine solche digitale Akte haben wollten. Bislang hätten lediglich "eine geringe sechsstellige Zahl" der insgesamt 73 Millionen Versicherten eine ePA angefordert. Die ePA sei "nur ein elektronischer Aktenordner", der derzeit auch medizinisch nicht viel bringe. Auch das E-Rezept funktioniere nicht. Es sei nicht einmal ein wirklich digitales Angebot, da noch immer Papierausdrücke möglich seien. In Summe gebe es also noch keine digitalen Anwendungen im Gesundheitsbereich, die einen wirklichen Mehrwert für Patienten und Ärzte bringen würden. Gassen bezeichnete die aktuellen Projekte daher als "Pseudodigitalisierung", die ein teures Ärgernis seien und nur Zeit kosten würden.

Das bedeute aber nicht, dass man auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens gänzlich verzichten solle. Man müsse "dysfunktionale Technologien" beenden. Gassen fordert einen Neustart, der zwar viel Geld – "die eine oder andere Milliarde" – kosten könne: Derzeit verbrenne man aber auch viel Geld.

Die Aussagen tätigte Gassen im Rahmen eines Interviews mit den Zeitungen der Funke Medien Gruppe, in dem es hauptsächlich um den bisherigen und weiteren Verlauf der Coronavirus-Pandemie geht. Die von ihm kritisierten Vorhaben hatten in den letzten Jahren immer wieder mit Problemen zu kämpfen; ganz zu schweigen von dem als Durcheinander noch höflich kritisierten Vorgehen bei dem Austausch der Konnektoren für die telematische Infrastruktur des digitalen Gesundheitswesens.

Die geringe Akzeptanz der ePA ist auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach bekannt. Er äußerte zuletzt immer wieder den Wunsch, die elektronische Patientenakte zum Opt-out-Verfahren umzubauen. Beim E-Rezept folgte Termin-Verschiebung auf Termin-Verschiebung. Seit 1. September müssen Apotheken in Deutschland elektronische Rezepte annehmen können. Auf einen deutschlandweit verpflichtenden Start in Arztpraxen legt sich das BMG nach vielen gerissenen Terminen aber nicht mehr fest.

Indes sieht der GKV-Spitzenverband (Gesetzliche Krankenkassen) die Lage anders als Gassen. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen brauche keinen Neustart, "sondern ein entschlossenes Voranschreiten mit pragmatischen Lösungen", lässt sich GKV-Sprecher Florian Lanz von der dpa zitieren. Auch Gassens Forderung nach mehr finanziellen Mitteln aus Steuergeldern verwundere ihn. Gesundheitsminister Lauterbach teilt die Bedenken offenbar ebenso wenig. Er kündigte am Wochenende im Rahmen der Krebs-Fachtagung YES!CON in München noch einmal an, die Digitalisierung beschleunigen zu wollen – samt einer weitreichenderen ePA-Umsetzung.

Update

Reaktionen vom GKV und Minister Lauterbach nachträglich eingefügt.

(jvo)