Kommentar: Selfie-Wahn und Fussball-WM

Selbstporträts hat schon Rembrandt von sich angefertigt. Seit es Smartphones gibt, heisst das Selbstbild nun flott Selfie und hat sich als eigene fotografische Kunstform etabliert. Ausgerechnet unsere frisch gekrönten Fussballhelden zeigen nun, warum man nicht jedem Fototrend hinterherhecheln sollte.

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Von
  • Sascha Steinhoff
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Ein Kommentar von Sascha Steinhoff

Sascha Steinhoff ist Redakteur bei c't Digitale Fotografie und schreibt seit 2008 regelmäßig über techniklastige Fotothemen. Privat ist er seit analogen Zeiten bekennender Nikon-Fanboy, beruflich ist er da flexibler. Als Softwarespezialist kümmert er sich insbesondere um die Themen Raw-Konvertierung, Bildbearbeitung und Bildarchivierung.

Wenn man behaupten würde, dass dem sogenannten Selfie in diesem Jahr der absolute Durchbruch gelungen ist, wäre das sicher stark untertrieben. Selfies, also handwerklich meist eher unbeholfen umgesetzte Selbstporträts, waren früher allenfalls als Profilfotos in Internet-Communities akzeptiert. Inzwischen sind die verrauschten Bildchen ebenso omnipräsent wie Smartphones und das gilt auch für die etablierten Printmedien. Prominente Zeitgenossen wie Barack Obama, Rihanna oder Miley Cyrus, haben früh auf den Trend gesetzt und das Selfie damit salonfähig gemacht. Auch abseits der Niederungen der Populärkultur und des amerikanischen Politbetriebes haben Selfies an Bedeutung gewonnen.

Früher ließen sich religiöse Oberhäupter wie Josef Ratzinger aka Benedikt XVI. von ihrem Hoffotografen – selbstredend mit feinster Spiegelreflex-Technik – bei ihren wichtigen Tagesgeschäften porträtieren. Dass der Papst Arm in Arm mit Gläubigen in ein am ausgestreckten Arm gehaltenes Fotohandy lächelt, war bei Benedikt schlicht unvorstellbar. Nun, die Zeiten ändern sich.

Berühmte Selfies: Von Rembrandt bis Ronaldo (9 Bilder)

Der Urvater aller Selfies: Selbstporträt Rembrandt

Auf seinem Selbstporträt von 1660 setzte Rembrandt mit nachdenklichem Blich und seitlichem Lichteinfall ästhetische Maßstäbe, die noch Jahrhunderte später Nachahmer inspirierten.
(Bild: artdaily.com/ Creative Commons Public Domain Mark 1.0)

Der aktuelle Papst Franziskus feiert sich und die Seinen heute ganz selbstverständlich per Selfie. In Deutschland, wo man das Eigenmarketing ja traditionell etwas zögerlicher angeht als anderswo, haben die Selfies erst mit dem Gewinn der Fußball-WM ihren Ritterschlag im Medienmainstream bekommen. Im Angesicht frischgebackener WM-Helden mutiert selbst eine ansonsten eher auf Distanz bedachte Angela Merkel zum Selfie-Fan. Kanzlerin hin oder her: Beim Selfie müssen alle auf Tuchfühlung gehen die auf's Bild wollen. Der Aufnahmeabstand ist auf Armlänge begrenzt, entweder man rückt zusammen oder es wird nix mit dem Foto.

So beeindruckend die Torausbeute unserer Elf in Brasilien war, es wurden noch viel mehr Selfies als Tore geschossen: Lukas Podolski am Strand, Manuel Neuer im Flugzeug, Mario Götze mit diesen furchtbaren Kopfhörern und so weiter. Da stellt sich automatisch die Frage, welche Auswirkungen diese Selfie-Flut auf die Performance hat. Wenn gesunde junge Männer in der Blüte ihres Lebens aus nichtigem Anlass wie 14-jährige Backfische permanent in Mobiltelefone grinsen, ist das nicht nur kulturell bedenklich. Der moderne Fussball ist ein unerbittlich transparenter Sport. Der Schlußpfiff ist noch nicht ganz verklungen, schon spuckt der Computer aus, wer wieviele Kilometer gelaufen ist, welcher Anteil der gelaufenen Kilometer im sogenannten Vollsprint zurückgelegt wurde, Zweikampfquote und so weiter. Jede kleine Schwäche, die man bei einem Bürojob mit einem geschickt lancierten Kompliment an den Abteilungsleiter locker überspielen könnte, sieht der Trainer spätestens bei der Datenanalyse. Und der eigenen Performance ist es nicht nur vermutlich wenig dienlich, wenn man sich schon auf dem Platz darüber Gedanken macht, wie man später bei Twitter besonders lässig rüberkommt. Der Kopf kickt schließlich mit.

Der ungekrönte Selfie-König der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014™ war Lukas Podolski. Er hat bei Twitter von Anfang an den Draht ordentlich glühen lassen, da kam keiner seiner Teamkollegen mit. Und das nicht nur auf Deutsch, sondern selbstverständlich zu Ehren des Gastgebers auch auf Portugiesisch. Soweit alles takko: Poldis Online-Präsenz war ein Traum für jeden Social Media Beauftragten. Selbst die Brasilianer waren schwer beeindruckt von seinem Twitter-Gewitter. Auf dem Platz war von ihm allerdings wenig zu sehen, da fehlte dann die anderweitig verpulverte Energie. Seine Großchance beim Spiel gegen Ghana hat er grandios vergeigt, von Toren und Torvorlagen war wenig zu sehen. Immerhin stellte Poldi sicher, dass die notorisch begeisterten Fußball-Hofberichterstatter rund um die Uhr mit neuen Nichtigkeiten versorgt wurden. Seine Kollegen die es Selfie-mäßig sehr viel lockerer angehen ließen, haben dann in beeindruckender Manier den WM-Pott geholt.

Kurz gesagt: Selfies sind derzeit das Tool der Wahl, um sein eigenes Foto in die Medien zu bringen. Zumindest dann, wenn man entweder prominent ist, oder sich zumindest in der Nähe von Promis aufhält. Wer allerdings an ambitionierteren Projekten als der medial aufgeblasenen Selbstdarstellung auf Twitter herumschraubt, sollte es mit den Selfies nicht übertreiben. (sts)