Missing Link: Auschwitz, die Befreiung

Seite 2: "Residenz des Todes"

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Tatsächlich wurde versucht, mit der sich abzeichnenden Niederlage des "tausendjährigen Reiches" alle Spuren aus der "Residenz des Todes" zu vernichten, genau wie die Asche all der Toten, die täglich in die Weichsel geschüttet wurde, die Knochen, die vom Sonderkommando zerstampft werden mussten und die Zähne, die dieses Kommando über das ganze Gebiet verteilte. Auf die Forderung "sucht nach unseren Zähnen" von Gradowski antwortete dieser Tage das sehr deutsche Zentrum für politische Schönheit mit einer eigenwilligen Aktion und präsentierte Asche aus Auschwitz in einer Stele in Berlin. Die Krematorien wurden gesprengt, die Keller zugeschüttet. Von den kräftigeren Insassen von Auschwitz, die sonst auf der "Rampe" zum Arbeitseinsatz nach Monowitz geschickt wurden, wurden ab Mitte 1944 rund 60.000 in die Konzentrationslager deportiert, in denen sie zur Waffenproduktion eingesetzt wurden. Zwischen dem 17. und 21. Januar wurden 58.000 Insassen von der SS auf Todesmärsche mit dem Ziel Mittelbau-Dora geschickt, wo die Auschwitzer SS-Brigade das Kommando übernommen hatte. Historiker reden darum vom Auschwitz im Harz.

Mit der Befreiung der verbliebenen 8000 Insassen von Auschwitz am 27. Januar 1945 ist die Geschichte des Lagers nicht vorüber. Zum einen begann die Arbeit der "Sonderkommission zur Untersuchung der deutsch-faschistischen Besatzer", in der zwei russische und zwei polnische Experten anhand von übersehenen Dokumenten und der noch vorhandenen Baupläne das Ausmaß der Vernichtung zu errechnen versuchten. Sie kamen auf vier Millionen Opfer in Auschwitz, eine stark überhöhte Zahl, die am letzten Kriegstag (8. Mai 1945) veröffentlicht und in den USA von Associated Press übernommen wurde. Demgegenüber lag die erste Meldung, die von einem Genozid an den Juden sprach, mit 1.765.000 Opfern näher an der heute akzeptierten Zahl von 1,3 Millionen Menschen. Zum anderen begann der sowjetische Geheimdienst NKWD im Februar 1945 damit, einen Teil des Lagers als Lager für die polnischen Offiziere der Untergrundarmee Armia Krajova zu benutzen, die gegen die Sowjetisierung Polens kämpften. Etliche von ihnen wurden in Auschwitz ermordet. Die Polen nutzten einen anderen Teil, um zwangsausgesiedelte Deutsche aus Oberschlesien unterzubringen.

Im Rahmen der internationalen Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde Anfang März 1947 von Mitarbeitern des US-amerikanischen Chefanklägers Robert Kempner das Protokoll der Wannsee-Konferenz über die "Endlösung der Judenfrage" vom 20. Januar 1942 entdeckt. 11 Millionen Juden aus ganz Europa sollten unter Ausnutzung der "militärischen Entwicklung" in den Osten "evakuiert" und durch Zwangsarbeit oder eine "entsprechende Behandlung" im zukünftigen neuen Lebensraum der Deutschen "natürlich vermindert" werden. Der Plan hinter der industriellen Vernichtung in Auschwitz war gefunden. Während dies passierte, begannen auf Weisung des polnischen Kulturministeriums in Oświęcim-Brzezinka die Arbeiten an einem Auschwitz-Museum. Es sollte an die Ermordung der katholischen polnischen Intelligenz erinnern, von denen Tausende im Stammlager Auschwitz erschossen wurden. An die Vernichtung der Juden wurde zunächst nicht gedacht, es galt, das Leid der Polen zu dokumentieren.

Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz erfahren diese polnisch-nationalistischen Ansätze eine bittere Wiederkehr. In einer seiner Reden nannte der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich den ehemaligen polnischen Botschafter zu Berlin, Józef Lipski, ein "antisemitisches Schwein". Putin bezog sich damit auf den verbürgten Ausspruch Lipskis, die Polen würden Hitler ein Denkmal setzen, wenn er ihre Juden nach Madagaskar transportieren würde. Weiterhin behauptete Putin bei verschiedenen Anlässen, Soldaten der Armia Krajova hätten Juden getötet und vergaß auch nicht, das Massaker von Jedwabne zu erwähnen, bei dem Polen 1941 unter deutscher Aufsicht 340 Juden in einer Scheune verbrannten. Eingebettet in diese Tatsachen hat Putin indes mit einer Geschichtsklitterung begonnen. Sie beginnt damit, dass es Putin zufolge Russen waren, die Auschwitz befreiten.

Tatsächlich waren überwiegend ukrainische Regimente an diesem Teil der Front im Einsatz, wie der pikierte Präsident des Landes, Wolodomir Selenskij bemerkte, der einer jüdischen Familie entstammt, die viele Angehörige im Holocaust verlor. Ein weiterer Aspekt von Putins neuem Geschichtsunterricht ist der Umgang mit dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt. Seine Bedeutung wird gegenüber dem Deutsch-polnischen Nichtangriffspakt heruntergespielt. Diese Neudeutung der russischen Rolle belastet den diesjährigen Jahrestag der Befreiung: Putin ist nicht in Auschwitz eingeladen, umgekehrt durfte der polnische Präsident Andrzej Duda nicht auf dem World Holocaust Forum sprechen, das der russische Oligarch Wjatscheslaw Moshe Kantor in Yad Vashem organisierte. Die bösen Geister zeigen sich heute in vielen Gewändern.

In Hitlerdeutschland grassierte der Antisemitismus, in Polen und auch in der Sowjetunion, wie das von Albert Einstein angeregte Projekt des Schwarzbuches über den Genozid sowjetischer Juden von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman zeigt. Es durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen. Dieses "Missing Link" ist nicht vollständig, ohne die Rolle der IT zu erwähnen, die in Auschwitz jetzt noch aufgefundene, kaum lesbare Handschriften mit Hilfe der Hyperspektraltechnik rettet. Nach einer Radiosendung über Auschwitz und die Probleme bei der Entzifferung meldete sich der IT-Spezialist Alexander Nikitjaew, der die Lesbarkeit der derzeit entdeckten, in Auschwitz vergrabenen Dokumente drastisch erhöhte. Wie schrieb Abraham Levite in seinem Kassiber:

"Dein Wille geschehe, der Du die Stimme des Gewimmers nicht erhörst, tu wenigstens das für uns: Bewahre diese Tränenverse in deinem Gefäß des Seins, auf dass sie in die richtigen Hände gelangen und ihre Besserung vollziehen."

[Update 12:45 Uhr] In einer früheren Fassung stand, dass die 1. Ukainische Front mehrheitlich aus Ukrainern bestand. Das wurde korrigiert. Die Armee bestand aus Angehörigen aller Völker der Sowjetunion, der Anteil von Ukrainern lag nicht über dem Durchschnitt. (bme)