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Missing Link: Patente versus Solidarität – Kampf um den Impfstoff gegen Covid-19

Monika Ermert
Missing Link: Patente versus Solidarität – Kampf um den Impfstoff gegen Covid-19

(Bild: creativeneko / Shutterstock.com)

Unternehmen arbeiten an Impfstoffen gegen das Coronavirus. Staaten sichern sich den Zugriff darauf. Doch soll wirklich das Geld über eine Heilung entscheiden?

Täglich jagen sich die Nachrichten vom Beginn großer klinischer Tests von Impfstoffkandidaten gegen Covid-19, die Börsenwerte der beteiligten Unternehmen rasen rauf und runter, je nachdem, ob sie selbst oder die Konkurrenz die Nase vorne haben. Ist es eigentlich vertretbar, dass bei der Impfstoffentwicklung ein großer Teil des Investitionsrisikos von der öffentlichen Hand übernommen wird, am Ende aber doch der Profit der Unternehmen darüber entscheidet, wer wie schnell Zugang zu Impfstoffen erhält?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

10 Millionen Menschen fielen vor 20 Jahren dem Immunschwächekrankheit AIDS zum Opfer, weil Patentinhaber die Produktion von Generika verhinderten. Das laufende Rennen um einen Impfstoffkandidaten gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 ist auch ein Rennen um Patente. Haben Firmen und Regierungen dazugelernt, oder drohen Patentrecht und Patentstreit wieder für Tote verantwortlich zu werden?

Der Kampf um Generikamedikamente gegen AIDS ist ein dunkles Kapitel der Medizingeschichte. Ärzte im Süden Afrikas wurden über Jahre dazu gezwungen zu entscheiden, wer die von westlichen Pharmaunternehmen vertriebenen HIV-Medikamente erhalten – und weiterleben – durfte, und wer nicht.

Die Produktion preiswerter Generika verhinderten die Unternehmen durch Klagen und dadurch, dass sie die Politik drängten, Ländern wie Südafrika mit Sanktionen zu drohen, sollten sie ihren Patentschutz unterlaufen. Diese Patentstrategie hat nach Angaben von Experten 10 bis 12 Millionen Menschen unnötig das Leben gekostet.

Kann das auch bei Covid-19 passieren? „Die klare Antwort lautet nein“, versichert Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Eine ganze Reihe von Organisationen wurden seither gegründet, die durch Absprachen mit Herstellern und eigene Projekte die künstliche Verknappung lebenswichtiger Medikamente zu verhindern versuchen.

Seit 2000 gibt es die Impfallianz Gavi (Global Alliance for Vaccines and Immunisation), seit 2010 den von Unitaid gegründeten Medicin Patent Pool (MPP) und seit 2016 CEPI, die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations. Der MPP soll den lange Zeit blockierten Zugang ärmerer Länder zu Medikamenten für HIV, Hepatitis C und TB voranbringen. Die Initiative CEPI entstand insbesondere als Reaktion auf Ebola-Epidemien in Afrika und hat das Ziel, die Impfstoffforschung in solch vernachlässigten Bereichen anzukurbeln.

Einiges hat laut Throm auch die Bill und Melinda Gates-Stiftung bewirkt, die Milliardenbeträge in Gavi, Cepi und MPP gesteckt hat. Man habe aus der Vergangenheit gelernt, sagt Throm, „auch die Unternehmen“. In den MPP brächten heute auch die Mitgliedsunternehmen seines Verbands Patente ein, „damit frühzeitig Generika hergestellt werden können. Die Verhältnisse haben sich grundlegend geändert.“

Auch die Regierungen signalisierten, dass sie gemeinsam gegen die Pandemie kämpfen wollten. Ausdruck der neu gefundenen Solidarität sollte die bei der Weltgesundheitsorganisation vereinbarte Initiative „Access to Covid Technology – Accelerator“ (ACT-A [2]) sein.

Bundeskanzlerin Angela Merkel pflichtete beim Start von ACT-A im April dem WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus bei, dass es sich bei einem Impfstoff, aber auch bei neuen Medikamenten gegen Covid-19 und bei Diagnostika um ein globales öffentliches Gut handele. Deutschland sagte eine halbe Milliarde Euro an Mitteln für die Beschleunigung von Erforschung, Entwicklung, Produktion und Verteilung von Impfstoffen, Diagnostika und Therapeutika zu. Bei einem von der EU initiierten Spendenmarathon sammelte die EU einen Milliardenbetrag ein für das Versprechen, Impfstoffe und Medikamente weltweit zugänglich zu machen.

Noch einen Nachweis für die veränderte Haltung von Regierungen und Unternehmen sieht VFA-Experte Throm in der Etablierung eines Einkaufpools für Covid-19-Impfstoffe, der Covax Facility. Die Facility ist eines der praktischen Projekte der ACT-A-Initiative. Der Zuspruch zu dem Pool, der von GAVI und CEPI gemanagt wird, sei gut, meint Throm.

Vorrangiges Ziel der Covax Facility soll es sein, den Zugang zu ersten Impfstoffen für arme Länder sicherzustellen, und zwar für wenig Geld oder kostenfrei. Alle anderen teilnehmenden Ländern sollen überdies garantiert Impfstoffdosen für ihr medizinisches und pflegerisches Personal erhalten. Für die Selbstzahler besteht auf jeden Fall der Vorteil, dass sie sich Zugriff auf Impfstoffkandidaten aus allen Kontinenten sichern. Denn wer weiß schon, wer als erster (oder bester) durchs Zulassungsziel gehen wird. Aber: Deutschland gehört nicht zu den 43 Ländern, die sich öffentlich „engagiert“ haben – genau sowenig wie die USA oder andere Länder, die erheblich in die Impfstoffforschung investieren.

Die Strategien zur gemeinsamen Bekämpfung der Pandemie sind nicht nur selbstlos, sondern auch aus Sicht von Experten selbstverständlich. „Eine globale Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle vorbei ist“, erklärt Marco Alves, Koordinator der Medikamentenkampagne der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF [3]). Natürlich ist eine globale Antwort notwendig.

Doch bei den Aktivisten hat sich Ernüchterung breit gemacht. Statt an einem Strang zu ziehen und die Nachfrage nach Impfstoffen tatsächlich zu poolen, haben sich viele Länder direkt bei den Impfstoffherstellern versorgt. Die US-Administration, europäische Länder wie Deutschland und inzwischen auch die EU-Kommission haben eigene Absprachen getroffen.

Die USA sicherte sich bis Ende 2020 100 Millionen Dosen von Pfizer [4], die mit dem Mainzer Unternehmen Biontech zusammenarbeiten, 300 Millionen Dosen des an der Oxford University entwickelten Kandidaten von Astra Zeneca und laut Pressemitteilung der US-Behörden gerade noch einmal 100 Millionen Dosen von Moderna [5]. Über 10 Milliarden Dollar haben die USA aus ihrer Operation Warp Speed [6] eingesetzt, um sich insgesamt 800 Millionen Dosen von diversen Kandidaten vorab zusichern zu lassen.

Die britische Regierung fürchtet laut jüngsten Berichten schon, selbst ins Hintertreffen zu geraten, weil US-Präsident Trump den an der Universität Oxford entwickelten Impfstoff zu Wahlkampfzwecken gerne ganz schnell einsetzen würde. Britische Blätter überschlugen sich mit Meldungen über einen Kommentar der Downing Street, dass das Vereinigte Königreich als erstes dran sei.

Auch die EU hatte inzwischen nachgezogen, für mindestens 1,1 Millionen Dosen [7]. Man sei mittlerweile schon mit fünf Impfstoffherstellern handelseinig. Auf der anderen Seite des Globus hat das chinesische Unternehmen Sinovac Verträge mit Indonesiens Regierung abgeschlossen.

Der Run auf nationale Kontingente spielt den Herstellern in die Hände, die exklusiv und hinter verschlossenen Türen mit den Ländern verhandeln. Trotzdem machen die reichen Länder mit. Alves und seine Mitstreiter sehen darin im besten Fall „bürokratische Behäbigkeit“, im schlimmsten Fall eine kaltschnäuzige Rückkehr zu "business as usual" [8].

Die Bekenntnisse zur Gesundheit – beziehungsweise einem möglichen Impfstoff – als globalem Gut haben die ACT-A Ankündigung nicht sehr lange überlegt, finden Alves und Vertreter anderer NGOs. Verärgert sind die Aktivisten hierzulande nicht zuletzt darüber, dass die deutsche Regierung nicht dem im Juni nachgeschobenen Solidarity Call for Action bei der WHO angeschlossen haben. Von den EU-Mitgliedsländern unterstützen nur Belgien, die Niederlande und Portugal den Solidarity Call.

Wie das Projekt Covax Facility ist der Solidaritätsaufruf darauf bedacht, die Absichtserklärungen des ACT-A praktisch umzusetzen. Er geht einen großen Schritt weiter als der Impfstoff-Einkaufspool und formuliert konkrete Maßnahmen, die darauf abzielen, Impfstoffe, Medikamente und Diagnosetechnologie auch wirklich so schnell wie möglich global zur Verfügung stellen zu können. Kernpunkt des Solidaritätsaufrufes ist ein Teilen von Wissen über Wirkstoffe und Methoden.

Costa Rica präsentierte mit dem sogenannten Covid-19 Technoloy Access Pool (C-TAP [9]) dabei fünf Kernpunkte, wie der rasche Austausch von Know-how sichergestellt werden soll. So sollen Daten über die Sequenzierung der Erreger gepoolt werden. Das hat am Beginn der Pandemie, als die akademische Welt der Epidemiologen sich auf den neuen Erreger stürzte, gut funktioniert. Genau die gleiche Offenheit verlangt C-TAP auch für die Ergebnisse der aktuell in verschiedenen Ländern laufenden klinischen Studien. Deren Ergebnisse müssen öffentlich gemacht werden, fordern die C-TAP Unterstützer. Generell soll das Modell Innovation durch Kooperation befördert werden.

Vor allem aber bedarf es für die rasche Verteilung von Medikamenten gegen Covid-19, von Diagnosetechnologie und Impfstoffen kostenfreier Lizenzen und das ist der Punkt, an dem die globale Solidarität endet. Das zeigen die Deals von Ländern mit Impfstoffherstellern deutlich. Dabei könnten, so Punkt fünf der C-TAP-Erklärung, Regierungen und Geldgeber etwas tun.

„Regierungen und andere Geldgeber werden ermutigt, ihre Finanzierungszusagen an pharmazeutische Unternehmen und andere Innovatoren an Bedingungen über die diskriminierungsfreie Verteilung, erschwingliche Preise und die Veröffentlichung der Daten von Tests zu knüpfen“, fordern die C-TAP Signatare.

Die Bundesregierung unterstützt mit rund einer Milliarde die Impfstofferforschung und -entwicklung. Mit 230 Millionen beteiligt man sich an CEPI. 750 Millionen wurden vom BMBF Mitte Juli ausgelobt, um die Impfstoffforschung in Deutschland zu beschleunigen. Zwar enthalten die Ausschreibungsrichtlinien eine Verpflichtung, Ergebnisse klinischer Studien zu veröffentlichen. Auch wird laut den Förderrichtlinien des BMBF „erwartet, dass auch ein angemessener Anteil der Produktion eines zugelassenen Impfstoffs für die bedarfsgerechte Versorgung in Deutschland zugänglich gemacht wird.“

Doch in Bezug auf Preise bleiben die Richtlinien sehr offen und von kostengünstigen oder kostenfreien Lizenzierungen – oder gar einem Verzicht auf Patentierung – ist nicht die Rede. Das Justizministerium erklärt, es spiele für die Patentierbarkeit erst einmal keine Rolle, unter welchen organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen eine Erfindung gemacht wurde. Aber war da nicht das Arbeitnehmererfindungsgesetz? Genau, sagt das Ministerium, und fügt an, dass auch das Zuwendungsrecht ein Instrumentarium bereithalte, um für einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Unternehmen als Zuwendungsempfängern und der öffentlichen Hand als Zuwendungsgeber zu sorgen.

Das Bundesministerium für Gesundheit teilt auf Anfrage mit, es lägen Erklärungen der Unternehmen vor, „dass die mit Bundesmitteln in Deutschland entwickelten Impfstoffe neben Deutschland auch anderen Staaten zugänglich gemacht werden und die breite Bevölkerung in Deutschland frühzeitig mit Impfdosen versorgt wird.“ Unabhängig davon werden „Rahmenverträge“ mit Impfstoffherstellern ausgehandelt. Deutschland sei an diesen Verhandlungen mit beteiligt, so das Ministerium. Nach viel Interessenausgleich klingt das nicht.

Von einem „business as usual“ kann nach Ansicht des Gesundheitsministeriums gar keine Rede sein, das zeige schon der rasante Fortschritt in der Covid-19-Forschung. Laut WHO sind aktuell 142 Impfstoffkandidaten in verschiedenen Stadien der präklinischen Entwicklung und Erprobung. 31 sind laut WHO-Statusbericht [10] vom 25. August bereits in einer der drei klinischen Phasen, sechs davon in der entscheidenden dritten klinischen Phase, bei der die Wirkung mit größeren Patientengruppen getestet wird. Neben Oxford/Astra Zeneca, Biontech/Pfizer und Moderna sind es drei chinesische Impfstoffkandidaten (Universitäten Wuhan und Beijing, beide zusammen mit Sinopharm und Sinovac).

„Außerdem werden weltweit in zahlreichen groß angelegten multizentrischen Studien potentielle Arzneimittel auf ihre mögliche Wirksamkeit zur Behandlung und Prophylaxe von COVID-19 hin untersucht“, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Pharmaunternehmen und Hersteller arbeiteten Hand in Hand und auch das zeige, „dass alle Marktbeteiligten eine hohe Bereitschaft haben, auch unter Inkaufnahme erheblicher finanzieller Risiken Arzneimittel und Impfstoffe zu entwickeln.“

Natürlich werden auch die künftigen Corona-Impfstoffe patentiert, bestätigt auch der VFA. Das sei das ganz normale Geschäft der Unternehmen. Das Argument, dass Patentierung die Forschung zumindest bis zur Anmeldung des Patents behindere, denn eine Anmeldung muss ja ihre Neuheit belegen, überzeugen den VFA-Lobbyisten Throm nicht. Er findet: „Man muss sich irgendwann entscheiden, ob man viele Projekte haben will. Dann muss man den Patentschutz akzeptieren“, sagt er. Die Alternative seien „ganz wenige Projekte“, weil niemand sich traue, das Risiko einzugehen. Oder man müsse alle Projekte öffentlich fördern und dann, so sagt er, „dann kann man das schon machen. Ich glaube aber nicht, dass es das bessere Modell ist.“

James Love, Gründer und Direktor der Organisation Knowledge Ecology International [11], sieht das anders. „Wenn es eine Situation gibt, in der diese Argumentation in sich zusammenfällt, dann ist es die Entwicklung von Covid-Impfstoffen“, sagt der US-amerikanische Aktivist, der maßgeblich den Kampf gegen die künstliche Verknappung der Aids-Medikamente durch Pharmaunternehmen geführt hat.

Loves Appell lautet schlicht, gerade während einer Pandemie sollte es so wenig Monopolisierung wie möglich geben, optimiert werden sollte in Bezug auf Schnelligkeit, Zugang und Bezahlbarkeit. Patentstreitigkeiten, die den Zugang zu einem Medikament erschweren, will niemand. Einen ersten Patentstreit lieferten sich bereits Moderna und Innovio.

Seine Argumentation ist schwer zu entkräften: „Geld ist für die Erforschung und Entwicklung der Corona-Therapeutika und Impfstoffe nicht das Problem. Die Regierungen schreiben ja Schecks aus wie verrückt.“ Der VFA rechnet damit, dass die Entwicklung eines neuen Impfstoffs etwa 400 Millionen kostet. Bei rund 30 Phase-3-Kandidaten reichten die Förderbeträge kaum aus, so der Verband. Aber allein das US Programm Operation Warp Speed ist so hoch, dass ein guter Teil an Kosten übernommen werden können.

Zudem, darauf machen Love wie auch MSF Experte Alves aufmerksam, stammen eine ganze Reihe von Wirkstoffen aus Projekten öffentlich geförderter Universitäten oder auch aus mit öffentlichen Preisen oder Ausgründungsmitteln geförderten Start-ups.

Gegenüber US-Medien brachte Love diese Woche schließlich auch sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass die Universität Oxford eine Kehrtwendung bei ihrer Patentstrategie gemacht hat. Noch im April hatten die Wissenschaftler angekündigt, ihren Wirkstoff freizugeben. Dann habe man sich AstraZeneca ins Boot geholt und das britisch-schwedische Unternehmen will am Impfstoff verdienen und sich höhere Preise zumindest für die Zeit „nach der Pandemie“ vorbehalten.

Teilweise mitverantwortlich ist, wie US Journalist Jay Hancock vom Fachblatt Kaiser Health News, schreibt: Bill Gates. Es sei Gates gewesen, der den Oxforder Wissenschaftlern empfohlen habe, sich mit einer großen Pharmafirma zusammenzutun.

AstraZeneca und Oxford haben mit dem von der Gates-Stiftung mitfinanzierten CEPI inzwischen einen kostengünstigen Deal verabredet. Doch ein Lizenzpool, wie in C-TAP vorgesehen, kommt nicht vom Fleck. Unter den 40 Ländern, die sich laut der Pressestelle der WHO bislang dem C-TAP-Pool angeschlossen haben, fehlen die Länder mit den großen Pharmaunternehmen. „Unternehmen sind C-TAP bislang noch gar nicht beigetreten“, teilt die WHO außerdem mit.

Schon lange, eigentlich seit den Tagen, in denen lebensrettende Aids-Medikamente den Bevölkerungen ganzer Länder vorenthalten wurden, kämpft Love dafür [12], dass Pharmaunternehmen ihre Karten bezüglich der Finanzierung neuer Wirkstoffe auf den Tisch legen müssen.

Italien machte als erstes Land im vergangenen Monat den größten Schritt in diese Richtung. Dort müssen Pharmaunternehmen jetzt offenlegen, welche öffentlichen Mittel für die Erforschung eines Medikaments eingesetzt wurden. Auch zur Preispolitik, zu Marketingbudgets und einigen anderen Kennzahlen müssen sich die Unternehmen in Italien künftig äußern. Italien hatte sich im vergangenen Jahr bemüht, eine solche Regelung über die WHO zum generellen Standard zu machen. Verabschiedet wurde am Ende aber nur eine deutlich abgeschwächte Regelung.

Mit zu den Gegner gehörte auch die Bundesregierung. Warum? Das Gesundheitsministerium führt Verfahrensfragen an. Die Resolution sei unter Umgehung des WHO Exekutivrates gefasst worden und das habe es „in den vergangenen 10 Jahren nicht gegeben“. Daher habe sich Deutschland auch distanziert. Aktivist Love kämpft dagegen weiter dafür, dass beispielsweise die im Rahmen von Operation Warp Speed dem Unternehmen Moderna abgetrotzte Zusage, die öffentliche Finanzierung bei Werbebotschaften deutlich zu machen, auch eingehalten wird.

„Der Lackmustest des Patentrechts wird kommen, wenn ein Impfstoff gefunden und patentiert ist,“ sagt Reto Hilty, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Denn dann werde es darum gehen, weite Teile der Weltbevölkerung zu versorgen, und dabei könne man „nicht einfach die Verantwortung der Pharmaindustrie in die Schuhe schieben.“ Natürlich, meint Hilty, sei dann die internationale Gemeinschaft gefordert.

Hilty warnt davor, das Patentrecht undifferenziert zum Sündenbock zu stempeln. Dass es heute in vielen Bereichen Defizite im Bereich der Medikamenten- und Impfstoffforschung gibt – Organisationen wie KEI oder MSF sprechen von einem klaren Marktversagen – kann man seiner Meinung nach nicht dem Patentrecht anlasten. Vielmehr sieht er den durch Regulierung von Massenprodukten entstandenen Preisverfall als Problem für profitorientierte Investoren.

Doch eines konzediert auch der Experte für geistiges Eigentum unumwunden: Zwar bietet das Patentrecht heute bereits Möglichkeiten, um auch die Interessen der Allgemeinheit abzusichern. So liege es auch an den Staaten selbst, an die Vergabe von Forschungsmitteln Bedingungen zu knüpfen. Noch werde die Nutzung der vorhandenen Mechanismen aber nicht ausgeschöpft.

Außerdem könnten sie tatsächlich rechtlich noch „optimiert“ werden, sagt Hilty. Auch bei der laufenden Reform des deutschen Patentrechts muss seiner Meinung nach noch nachgebessert werden. Sie gehe einfach noch nicht weit genug, um den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen der Patentinhaber und der Allgemeinheit sicherzustellen.

Radikale Einschnitte zugunsten des öffentlichen Interesses forderte die am University College London forschende Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato. Sie erinnerte anlässlich des Starts der C-TAP-Initiative daran, dass es Bedingungen für Investitionen der öffentlichen Hand in vielen Bereichen gab. Eine Bedingung für öffentliche Gelder für AT&T etwa sei die Verpflichtung zur Reinvestition von Gewinnen in die Entwicklung innovativer Telekommunikation gewesen.

Ohne solche Investitionen oder die des Militärs bei DARPA hätte es kein Internet gegeben. Mazzucato hält den Verzicht von Governance im Pharmabereich für einen fatalen Fehler, gerade jetzt, wo die öffentliche Hand Milliarden investiert.

Natürlich bleibe das Patentsystem wichtig, räumt sie ein. Aber es wurde in den vergangenen Jahrzehnten missbraucht und zum Problem kann auch in der Covid-19-Krise werden, dass zunehmend Technologie zur Erzeugung von Medikamenten patentiert wird und nicht mehr Wirkstoffe selbst. Etwa die neuen Plattform-Technologien in der Impfstoff- und Antikörperentwicklung. Geht es nach Mazzucato, dann müssen Gesetzgeber endlich sicherstellen, dass Patente dafür genutzt werden, wofür sie ursprünglich gedacht waren, und nicht „um erpresserische und monpolistische Preisstrategien zu befeuern“.

(tiw [13])


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[1] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[2] https://www.who.int/initiatives/act-accelerator
[3] https://msfaccess.org/5-barriers-big-pharma-preventing-people-getting-lifesaving-tb-drugs
[4] https://www.globenewswire.com/news-release/2020/07/22/2065701/0/en/Pfizer-and-BioNTech-Announce-an-Agreement-with-U-S-Government-for-up-to-600-Million-Doses-of-mRNA-based-Vaccine-Candidate-Against-SARS-CoV-2.html
[5] https://www.hhs.gov/about/news/2020/08/11/trump-administration-collaborates-with-moderna-produce-100-million-doses-covid-19-investigational-vaccine.html
[6] https://www.hhs.gov/coronavirus/explaining-operation-warp-speed/index.html
[7] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_1524
[8] https://msfaccess.org/5-barriers-big-pharma-preventing-people-getting-lifesaving-tb-drugs
[9] https://www.who.int/news-room/detail/29-05-2020-international-community-rallies-to-support-open-research-and-science-to-fight-covid-19
[10] https://www.who.int/publications/m/item/draft-landscape-of-covid-19-candidate-vaccines
[11] https://www.keionline.org/
[12] https://docs.google.com/document/d/1QMPxxdwVxeR94qOKq-ihZe2BCe8YtGgz9mtlscuh0Vk/
[13] mailto:tiw@heise.de