Missing Link: Weimar 1919 - Meine Herren und Damen!

Es ist hundert Jahre her: Frauen bekamen hierzulande das aktive und passive Wahlrecht. Eine Erinnerung, aus gegebenem Anlass vor der wichtigen Europawahl.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 191 Kommentare lesen
Missing Link: Weimar 1919 - Meine Herren und Damen!

Weimarer Nationalversammlung: Am 11. Februar 1919 nahm nach der Wahl Friedrich Eberts zum vorläufigen Reichspräsidenten und der Beauftragung Philipp Scheidemanns mit der Regierungsbildung die "Weimarer Koalition" aus SPD, Zentrum und DDP ihre Arbeit auf.

(Bild: Willy Römer, Deutsches Historisches Museum, Berlin, bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Nicht erst die Auseinandersetzungen um Artikel 17/13 und Artikel 15/11 in der EU-Urheberrechtsreform haben vor Augen geführt, dass die Parlamente und auch besonders das Europaparlament doch einiges über unsere Zukunft und die Zukunft des Netzes zu sagen haben. Vielleicht ist es auch symptomatisch, dass, unabhängig von den konkreten Personen, mit Julia Reda und Axel Voss zwei Symbol-Charakter ganz eigener Provenienz die Protagonisten dieser Auseinandersetzung waren.

So rückt denn auch die Europawahl Ende Mai bei Vielen endlich ins Bewusstsein. Dies gibt Anlass zu einer Erinnerung, dass Demokratie und die Parlamente in vielen Aspekten von Bedeutung sind.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Als die verfassungsgebende Nationalversammlung 1919 ein halbes Jahr lang in Weimar tagte, waren 37 Frauen mit von der Partie. Mit den Nachrückerinnen waren es gar 41 Frauen, eine weltweit für Aufsehen sorgende Quote, die in Deutschland erst 1983 wieder erreicht wurde. Als erste Rednerin trat Marie Juchacz an: "Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat."[i]

Im Zuge der deutschen Revolution von 1918 erkämpften die Frauen das aktive und passive Wahlrecht. In den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung kandidierten denn auch 300 Frauen und wurden von Frauen gewählt: 80 Prozent der weiblichen Wahlberechtigten im zusammengebrochenen Deutschen Reich gaben im Januar 1919 ihre Stimme ab.

Die Nationalversammlung 1919

(Bild: "Weimarer Republik", Elefanten Press 1977)

Für die kämpferische Marie Juchacz waren die Frauen keinen Dank schuldig, denn das Wahlrecht war für sie und für die bürgerliche Frauenbewegung eine Selbstverständlichkeit, wie sie in ihrer Rede betonte betonte. Juchacz, die 1919 noch die Arbeiterwohlfahrt als Fürsorgeorganisation für Arbeiterinnen gründen sollte, hatte 1917 das Frauenbüro der SPD in der Nachfolge von Clara Zetkin übernommen, die 1919 in der KPD organisiert war.

Die KPD, bzw. ihr Vorläufer, der Spartakusbund boykottierte die Weimarer Nationalversammlung. Die Kommunisten hatten ohnehin eine andere Perspektive auf die Frauenfrage, wie Zetkin zum "Hauptwiderspruch" im Kampf der Klassen schrieb: [i]"Die Emanzipation der Frau wie die des gesamten Menschengeschlechts wird ausschließlich eine Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein."

Ein solcher Automatismus lag dem Denken der Marie Juchacz fern. Ihre Forderungen waren pragmatischer: die Gleichstellung lediger Mütter und ihrer Kinder lag ihr am Herzen, oder das Recht auf Abtreibung in den ersten Monaten einer ungewollten Schwangerschaft. Zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl, die ebenfalls in der Nationalversammlung saß, gehörte sie ab 1908 zu den talentiertesten Rednerinnen der Partei, auch wenn ihre Stimme erst viel später aufgezeichnet wurde.

Ohne Mikrofon und Verstärkeranlage hatten die Frauen in der Nationalversammlung ein Problem mit den lauthals brüllenden Männern: Sie wurden als zu leise wahrgenommen und waren schwer zu verstehen. Über die Lehrerin Clara Mende von der Deutschen Volkspartei urteilte ein Journalist, nachdem er sich über ihr grünes Kleid als Symbol der Reformbewegung lustig gemacht hatte: "Leider ist ihr Verstand durchdringender, als im Plenum ihre Stimme".

Frauen, die sich dagegen wehrten, wie die laute Zwischenruferin Luise Zietz von der USPD, wurden als "Kreischziege" abgekanzelt, der die nötige "Fraulichkeit" fehlte – was immer das sein sollte. Tatsächlich beschränkte sich die Berichterstattung über die Frauen im ersten demokratisch gewählten Parlament Deutschlands häufig auf ihr Aussehen und die Mode, die sie trugen.

Ernüchtert schrieb die Feministin Lida Gustava Heymann über die "altersschwachen Greise", die bereits im "dahingeschiedenen Reichstag" bei der Politik-Simulation mitmachten und nun "so unglaublich das auch scheint, von deutschen Männern - und leider auch Frauen - wiedergewählt worden sind."

Ihre Lebensgefährtin, die bekannte Pazifistin und erste deutsche Juristin Anita Augspurg, die unter Kurt Eisner an der Ausrufung der bayerischen Republik beteiligt war, war da bereits Opfer der männlich dominierten Politik. Als Pazifisten war sie von den Männern in der USPD ausgebootet worden. Ähnliches passierte später der SPD-Linken Tony Sender, die 1924 ihren Wahlkreis Frankfurt aufgeben und in das linke Dresden wechseln musste, um ihren Parlamentsplatz behalten zu können.

Das Netzwerk der weißen alten Männer, wie es heute heißen würde, bestimmte, was die richtigen Frauenthemen waren. Die ersten Politikerinnen durften über "das Soziale" reden, über Mutterschutz, die Stellung nichtehelicher Kinder oder die Rechte verheirateter Frauen, aber nicht über Außenpolitik oder gar militärische Fragen wie später über den Bau des Panzerkreuzers A. Annie get your Gun war in Deutschland nicht angesagt.

Aber es gab Veränderungen. Über die Parteigrenzen hinweg stimmten die Frauen für Artikel 119 der Weimarer Verfassung: "Die Ehe beruht auf der Gleichberechtigung beider Geschlechter. /.../ Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge." Auch Artikel 121 verrät die weibliche Handschrift: "Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern." Ein Passus, der auch hundert Jahre später nicht an Bedeutung verloren hat.

In der Weimaraner Verfassung wurde auch erstmals das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis festgelegt. Und im Zuge aktueller Debatten sei auch Artikel 115 erwähnt, der da lautete: "Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich." Dazu dichtete Bertolt Brecht in seinem Gedichtzyklus zur Weimarer Verfassung sarkastisch:

Auch für einen Deutschen gibt es freie Stätten
Denn die sind in unserem Sklavendasein unersetzlich
Unersetzlich.
Wenn wir eine Wohnung hätten
Wäre diese Wohnung unverletzlich
Unverletzlich.

Da wir leider keine Wohnung kriegen
Sind uns Kellerloch und Brückenborgen unersetzlich
Unersetzlich.
Wenn wir aber auf der Straße liegen
Sind wir dann natürlich auch verletzlich
Verletzlich.

Unabhängig von dem gewaltigen Fortschritt in Verfassungsfragen wurde die Gleichberechtigung anno 1919 nur auf dem Papier vorbildlich praktiziert. Noch das offizielle Foto der Frauen von Weimar wurde von Männern im Hintergrund überwacht.

Zur Nationalversammlung bekamen alle Frauen zusammen ein eigenes Frauenzimmer spendiert, zum Aufenthalt in den Parlamentspausen. Hier wurde Kaffee und Kuchen serviert, während sich die Herren in Wirtsstuben und Bierkellern trafen und "Hinterzimmer-Absprachen" austüfteln konnten.

Von dieser wichtigen Form der politischen Kommunikation ausgeschlossen, war es für Frauen wie die Sexualreformerin Helene Stöcker klar, dass eigene parteiübergreifende Netzwerke gebildet werden müssen. 1919 ist sie zusammen mit Anita Augspurg Mitgründerin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, später den "Bund der Kriegsdienstgegner".

Frauen bei der Wahl am 19. Januar 1919

(Bild: "Weimarer Republik", Elefanten Press 1977)

Auf ihre dadaistische Weise reagiert auch die Künstlerin Hanna Höch auf den Politik-Betrieb des Jahres 1919. Sie nahm das berühmte Badehosen-Foto des noch nicht vereidigten Reichspräsidenten Friedrich Ebert und seines Reichswehrministers Gustav Noske, ergänzt es um die Vasenol-Werbung für Fußpuder gegen die Stinkstiefel und rief in dieser im Oktober 1919 zur Schau gestellten Collage zur echten Wahl einer "Deutschen Frauen-Nationalversammlung" auf. Im kleingedruckten die Forderung: "Schrankenlose Freiheit für Hanna Höch".

Die erste deutsche Demokratie existierte 14 Jahre. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Frauen aus der Politik gedrängt. Die Herrenrasse duldete keine selbstbewussten Frauen.

Viele Weimarer Politikerinnen kamen auf die Fahndungslisten und mussten fliehen, etwa Anita Auspurg und ihre Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann. Augspurg hatte gleich nach der ersten großen Rede Hitlers in München seine Ausweisung als unerwünschten Ausländer gefordert. Andere begingen Selbstmord, etwa die SPD-Politikerin Minna Bollmann. Politikerinnen wie Marie Zettler von der Bayerischen Volkspartei wurden von der Gestapo überwacht und mussten ihre meist publizistische Arbeit einstellen.

Wieder andere arrangierten sich mit den neuen Machthabern, wenngleich unter Vorbehalten, wie der Fall von Gertrud Bäumer von der Deutschen Demokratischen Partei zeigt. Sie gab weiterhin eine Frauenzeitschrift heraus, musste aber die Aufnahme nationalsozialistischer Inhalte dulden. Erinnert werden muss auch an Frauen wie die SPD-Politikerin Johanna Tesch, die sich im Widerstand gegen Hitler engagierten und im Konzentrationslager starben. (jk)