Quatsch mit Quote? Warum die Zuschauerzahlen wichtig bleiben
Immer mehr Menschen nutzen Streamingangebote und Mediatheken. Die bisher übliche Einschaltquote zählt sie nicht mit und verliert dadurch an Aussagekraft.
Wie gut Fernsehen ist, lässt sich nicht messen. Aber wie viele eingeschaltet haben, ist eine feste Größenordnung. Jeden Morgen können die Programmmacher nachgucken, was am vergangenen Tag gut gelaufen ist. Allerdings sitzen nicht mehr alle Zuschauer wie früher vor dem Fernseher, manche gucken Jan Böhmermanns "Neo Magazin Royale" schon vorab am Laptop, andere sämtliche "Charité"-Folgen aus der Mediathek am Stück. In der klassischen Einschaltquote tauchen sie nicht auf. Ist die Quote also Quatsch?
Ein Ende nicht vorstellbar
"Früher sprach man von der Leitwährung, auf deren Gültigkeit sich alle geeinigt hatten", sagt Prof. Volker Lilienthal, Medienwissenschaftler an der Universität Hamburg. "Diese Leitwährung unterliegt einer Erosion, die ausgelöst wird durch die vielen digitalen Empfangsplattformen, die in die Messung nicht einbezogen sind. Das ist zweifelsohne ein großes Problem." Max Conze, der Chef von ProSiebenSat.1, kritisierte die Quotenmessung in einem FAZ-Interview im vergangenen Oktober als antiquiert: "Das System hat sich überlebt."
Wäre denkbar, ganz darauf zu verzichten? "Nein, das kann ich mir nicht vorstellen", sagt Lilienthal. "Denn die Einschaltquoten braucht man nicht nur, um Werbepreise zu rechtfertigen, sondern auch für die Programmplanung."
Das gelte für den privaten wie für den öffentlich-rechtliche Rundfunk. "Der Programmdirektor hat ein Budget und muss Entscheidungen treffen. Da geht es um publizistische oder künstlerische Ambition auf der einen Seite und auf der anderen um die Nachfrage des Publikums", erklärt der Medienwissenschaftler. "Man braucht verlässliche Messwerte dafür, wohin die Nachfrage hauptsächlich geht und zu welcher Zeit Zielgruppen mit bestimmten Programminhalten ansprechbar sind."
Lineares Fernsehen immer noch bei 97 Prozent
Dem Hype um Streamingdienste und dem Erfolg der Mediatheken zum Trotz, gucken die meisten Filme und Serien so wie immer: "Im Jahr 2018 betrug die Fernsehnutzung in Deutschland bei den Gesamtzuschauern immer noch durchschnittlich 217 Minuten pro Tag", sagt Kerstin Niederauer-Kopf, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Videoforschung (AGF) in Frankfurt: "Das ist eine sehr beachtliche Zahl." Die AGF Videoforschung GmbH ist ein Zusammenschluss unter anderem von ARD, der Mediengruppe RTL Deutschland, ProSiebenSat.1 Media, Sky Deutschland, Sport 1, Tele 5, WeltN24 und ZDF. Ein Ziel ist die kontinuierliche Erfassung der Nutzung von Bewegtbildinhalten.
"Zeitgemäß sind die Einschaltquoten noch, solange es klassische Fernsehzuschauer gibt. Und es gibt immer noch eine ganze Menge", sagt auch Camille Zubayr, Leiter der ARD-Medienforschung. Das lineare Fernsehen, bei der die Zuschauer die Sendung am Fernseher zur angekündigten Zeit am Fernseher gucken, mache nach wie vor 96,97 Prozent der gesamten Bewegtbildnutzung aus.
Es stimme zwar, dass es immer mehr Möglichkeiten fürs Fernsehgucken gebe, sagt Zubayr. Aber in überschaubarem Rahmen: "Wenn wir 9 Millionen "Tatort"-Zuschauer haben, sind es 90.000, die noch hinzukommen im Live-Stream und in den Mediatheken", so der ARD-Medienforscher. "Zur Hälfte werden die Mediatheken genutzt, um Sendungen im Nachhinein zu gucken, zur anderen Hälfte, um sie live während der TV-Ausstrahlung auf dem Laptop oder dem Tablet zu verfolgen."
Verlust an den Rändern
Uwe Hasebrink, Leiter des Leibniz-Instituts für Medienforschung in Hamburg, sieht diese Entwicklung genauso: "Es wird immer noch linear ferngesehen, aber nicht mehr nur, das heißt, an den Rändern geht uns etwas verloren. Einschaltquoten seien deshalb zwar noch das Mittel der Wahl – "aber nicht mehr so aussagekräftig wie vor einiger Zeit".
Und deshalb besteht Handlungsbedarf: "Wir können nicht das eine Maß über den Haufen werfen, weil man damit nicht mehr so genau messen kann", sagt Hasebrink. "Aber wir müssen uns Gedanken machen, wie wir zusätzlich erfassen, was an anderer Stelle dazukommt." Der Markt brauche verlässliche Daten. Sicher ist für Camille Zubayr: "Eine einzige endgültige Zuschauerzahl so wie früher, die Zeiten sind in der Tat vorbei."
Es tut sich jedenfalls einiges: "Unser Ziel ist es, die gesamte Bewegtbildnutzung zu erfassen", sagt Kerstin Niederauer-Kopf. Längst wird die zeitversetzte TV-Nutzung einbezogen: Wenn sich ein Teilnehmer des AGF-Panels für die Datenmessung den "Tatort" mit dem Festplattenrekorder aufzeichne und ein paar Stunden später gucke, werde das mitgezählt, sagt die AGF-Geschäftsführerin. Bereits seit 2017 wird zusätzlich die Mediathekennutzung am PC und Laptop ausgewiesen. Seit Herbst 2018 misst die AGF auch die Bewegtbildnutzung über Smartphones oder Tablets und weist diese seit Mitte Mai aktuell aus.
Immer mehr Daten
Seitdem setzt die AGF eine neue Version der Auswertungssoftware videoSCOPE 1.2 ein, mit der die Daten der zusätzlichen Mediathekennutzer schneller öffentlich gemacht werden: Die Tagesdaten stehen nun schon nach acht Tagen, nicht erst einen Monat nach Monatsende zur Verfügung. Die Messlücken würden kontinuierlich geschlossen, erklärt Camille Zubayr. "Wir sind uns im Klaren darüber, dass der eine oder andere Sehvorgang von unserem ausgeworfenen "Mess-Netz" noch verpasst wird, aber es wird immer engmaschiger."
Schon seit 2015 arbeiten die AGF und Youtube zusammen. Im März hat die AGF – für den Oktober 2018 - zum ersten Mal Daten veröffentlicht, die die Youtube-Nutzung einschließen. Außen vor bleiben Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime oder Maxdome, die nicht aktiv an der Messung der AGF teilnehmen. Den Überblick zu behalten, welche Bewegtbildangeboten wie genutzt werden, bleibt also schwierig. Die Zeiten, in denen dafür ein paar wenige Zahlen ausreichten, kommen wohl nicht wieder. (mho)