Schach-Skandal: Niemann verklagt Carlsen und Chess.com wegen Verleumdung

Mindestens 100 Millionen Dollar Schadenersatz fordert Schachspieler Hans Niemann. Magnus Carlsen und andere beschuldigen ihn des Betrugs, ohne Beweise.

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Schachbrett und Figuren aus Marmor in Ausgangsstellung

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

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Inhaltsverzeichnis

Der des Betrugs beim Schach bezichtigte Großmeister Hans Moke Niemann geht in die Offensive. Die Anschuldigungen hätten zu einem Boykott gegen ihn geführt, was ihn seiner Lebensgrundlage beraube. Tatsächlich seien die Vorwürfe unbegründet. Schachweltmeister Magnus Carlsen habe sie aus gekränkter Ehre und Sorge um seine eigenen Einnahmen erhoben.

Der 19-jährige Niemann verklagt Weltmeister Magnus Carlsen, dessen Online-Schachplattform Play Magnus, die größte Schachwebsite Chess.com, deren Chef, den Internationalen Meister Daniel Rensch, und deren beliebtesten Spieler, Großmeister Hikaru Nakamura. Die juristischen Vorwürfe sind mündliche sowie schriftliche Verleumdung, Bildung eines illegalen Boykott-Kartells entgegen US-Wettbewerbsrecht, unerlaubter Eingriff in Geschäfte sowie Verschwörung.

Mit Ausnahme Carlsens und seiner Firma sind alle Beteiligten in den USA ansässig. Chess.com ist allerdings dabei, Play Magnus zu übernehmen. Niemann hat seine zivilrechtliche Klage bei einem Bundesbezirksgericht in Missouri eingebracht. Er beantragt dabei ein Verfahren mit Geschworenen und begehrt Schadenersatz in zu bestimmender Höhe, mindestens aber 100 Millionen US-Dollar.

Niemann hat in Präsenzpartien (OTB, Over the Board) den schnellsten und steilsten Aufstieg aller Schachspieler der letzten Jahre hingelegt, hat vergangenes Jahr aber auch besonders viele Partien gespielt. Bei Online-Partien ist er beim regelwidrigen Einsatz eines Schachcomputers erwischt worden. Er hat zugegeben, bei freundschaftlichen Spielen einmal im Alter von 12 Jahren und einmal im Alter von 16 Jahren auf diese Weise betrogen zu haben. In Präsenzpartien oder Online-Turnieren habe er das jedoch nie getan, unterstreicht Niemann.

Am 4. September gewann Niemann eine Präsenzpartie gegen Carlsen bei einem Turnier in St. Louis, Missouri. Diese Niederlage war für den Weltmeister eine besondere Schmach, hatte er doch erst im Juli angekündigt, seinen Weltmeistertitel nicht verteidigen zu wollen. Stattdessen wollte er seinen eigenen Weltrekord von 125 unbesiegten Partien bei Turnieren unter der Ägide des Schachweltverbands FIDE brechen und ein noch von niemandem erreichtes FIDE-Rating von 2900 schaffen. Beide Ziele sind durch die Niederlage in weite Ferne gerückt.

Carlsen beschuldigte Niemann indirekt des Betrugs und verlangte, dass Niemann aus dem Turnier ausgeschlossen werde. Da es dafür keine Beweise gibt, lehnten die Veranstalter das ab, woraufhin Carlsen abreiste. Der Skandal war perfekt.

Außerdem erweckte Carlsen öffentlich den Eindruck, ein anderer als Betrüger vermuteter Spieler habe Niemann geholfen, sei dessen Trainer, und dass Niemann für kurze Zeit die Schachakademie dieses Herrn besucht habe. All dies ist laut Niemanns Klage frei erfunden. Ende September beschuldigte Carlsen Niemann schließlich explizit des wiederholten Betruges beim Schachspielen, ohne jedoch zu erläutern, wie Niemann das bei einer Präsenzpartie mit Videoaufzeichnung gemacht haben soll.

In seiner Klageschrift weist Niemann darauf hin, dass er Carlsen schon früher besiegt hat – dieser Sieg sei bloß der erste bei einem FIDE-Turnier gewesen. Mitte September trat Niemann erneut gegen Carlsen an, diesmal online. Carlsen gab nach dem ersten Zug auf. Obwohl der Weltschachverband, die Organisatoren und die Schiedsrichter des Turniers in Missouri und mehrere unabhängige Experten bestätigt haben, dass es keine Beweise für Betrug durch Niemann bei Präsenzpartien gibt, hatten die Vorwürfe Carlsens erhebliche Auswirkungen auf Niemanns Einkommen.

Chess.com – das 83 Millionen Dollar für die Übernahme von Carlsens Firma Play Magnus zahlt – hat Niemann von der Webseite und allen zukünftigen Veranstaltungen ausgeschlossen. Das trifft Niemann hart, weil Chess.com die größte Schachwebseite ist, und Play Magnus die zweitgrößte. Beide Firmen sind durch eine Reihe von Übernahmen konkurrierender Schachseiten und Schachverlage gewachsen.

Hikaru Nakamura, der nach Followerzahlen gemessen größte Star auf Chess.com, hat umfangreiches Videomaterial veröffentlicht, das die Vorwürfe Carlsens untermauern soll, was Niemann in Abrede stellt. Der Ausschluss Niemanns gilt auch für alle Turniere des Weltschachverbands FIDE, die von Chess.com oder Play Magnus gesponsert werden. Das ist die Mehrheit aller FIDE-Turniere.

Aus der Klage Niemanns

"Despite the falsity of Defendants’ accusations, Defendants’ malicious defamation and unlawful collusion has, by design, destroyed Niemann’s remarkable career in its prime and ruined his life. As a result of Play Magnus and Chess.com’s collusion to blacklist him from chess, Niemann can no longer compete in any online Chess.com or Play Magnus tournaments, and will not receive invitations to in-person events sponsored by Chess.com or Play Magnus, which collectively comprise the majority of FIDE-sanctioned chess tournaments."

Zudem hat Chess.com-Chef Daniel Rensch Pressemitteilungen und einen Bericht veröffentlicht, der Niemann beschuldigt, in mehr als 100 Online-Partien geschummelt zu haben – nicht bloß in zwei. Konkrete Beweise gibt es keine. Der Bericht fußt auf statistischen Auswertungen und Einschätzungen anderer Schachspieler. Es gibt auch Betrugsexperten für Schach, die der Einschätzung Renschs widersprechen.

Beispielsweise verweist Niemann in seiner Klage auf Universitätsprofessor Kenneth Regan, der das Anti-Betrugs-System der FIDE entwickelt hat. Regan hat alle Spielen Niemanns seit Anfang 2020 überprüft und keine Auffälligkeiten gefunden. Die FIDE hat Carlsens Verhalten verurteilt, da sein Verhalten dem Schachsport schaden könnte. Wer die Betrugsbekämpfungsprotokolle nicht befolge, könne den Ruf anderer Spieler schädigen. Die FIDE ist bereit, eine Anti-Betrugs-Arbeitsgruppe einzurichten. Gegen Niemann in Person werde aber nur ermittelt, wenn es "adäquate Anfangsbeweise" gäbe.

Dennoch, Niemanns Ruf und Karriere sind ruiniert. Neben dem Ausschluss durch Chess.com hat auch das niederländische Tata Steel Chess Tournament die Vorbereitungen für Niemanns Teilnahme abgebrochen, der deutsche Großmeister Vincent Keymer ein in Deutschland geplantes Match abgesagt und eine Schule es abgelehnt, Niemann als Schachlehrer zu beschäftigen, wie der junge Amerikaner in seiner Klage schildert.

Das Verfahren heißt Niemann v. Carlsen et al und ist am US-Bundesbezirksgericht für das östlichen Missouri unter dem Az. 22-cv-01110 anhängig.

(ds)