Studie: Bund vernachlässigt drohende Jobverluste durch Digitalisierung

Mit dem hiesigen Fokus auf die Industrie 4.0 gehe völlig unter, dass mit dem technologischen Wandel vor allem Arbeitsplätze etwa im Finanzsektor oder im Handel wegfielen, heißt es in einer Analyse von zwei Stiftungen.

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Arbeit am Computer

(Bild: dpa, Patrick Pleul/Archiv)

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Entscheider in Politik und Wirtschaft sollten in der Debatte über die Zukunft der Erwerbstätigkeit den Dienstleistungssektor deutlich stärker in den Blick nehmen. Dazu rät Philippe Lorenz von der Stiftung Neue Verantwortung in einer gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung am Donnerstag veröffentlichten Analyse zur "Digitalisierung im deutschen Arbeitsmarkt". Die hiesige Sicht sei zu sehr auf die Transformation des produzierenden Gewerbes ausgerichtet, die Debatte dominiert von der Industrie 4.0. Dies verstelle den Blick auf die bevorstehenden, voraussichtlich viel umfassenderen und pessimistischeren Szenarien rund um Dienstleistungsjobs.

Die Frage nach der Zukunft der Arbeit ist laut dem Experten "erneut ins Zentrum der Diskussion um den technologischen Wandel gerückt". Höhere Rechenleistungen von Computern, die Verfügbarkeit sehr großer Datenbestände sowie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Algorithmen seien "die wesentlichen technologischen Treiber, die strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes verursachen".

Der Fokus auf den deutschen Industriesektor beim Thema künftiges Arbeiten erklärt sich dem Verfasser zufolge aus dessen volkswirtschaftlichen Bedeutung. Das produzierende Gewerbe trage hierzulande über 30 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Wirtschaftspolitik sei daher in Deutschland vor allem Industriepolitik, was prominente Regierungsprogramme wie die Hightech-Strategie des Bundeskabinetts belegten.

Die Möglichkeit eines massiven Stellenabbaus durch den Einsatz digitaler Technologien, wie sie seit spätestens 2013 meist am Beispiel USA prophezeit würden, werde zwar auch hierzulande anerkannt, schreibt Lorenz. Insgesamt herrsche aber die optimistische Ansicht vor, dass die wegfallenden Stellen durch neue in anderen Bereichen kompensiert würden. Insgesamt komme es in Deutschland daher nicht zu einem Beschäftigungsrückgang.

Es sei aber der Dienstleistungssektor, der "vor den größten Umwälzungen steht", hält der Beobachter dem entgegen. Auch in der Bundesrepublik seien dort deutlich mehr Menschen beschäftigt als im produzierenden Gewerbe. Um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt in Deutschland zu verstehen, sei es dringend notwendig, dem diesem Tätigkeitsbereich "die gleiche Bedeutung bei der Untersuchung der Veränderungsprozesse beizumessen" wie dem Industriesektor.

Pessimisten sähen hauptsächlich angesichts der rasanten Fortschritte in der Robotik und KI eher negative Beschäftigungseffekte und auch Risiken für ein auf Erwerbseinkommen basierendem Steuer- und Gesellschaftssystem, heißt es in dem Papier. Vor allem im Dienstleistungssektor befürchteten sie "deutliche Rationalisierungseffekte und eine Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis". Durch den Wegfall sozialversicherter, fester Arbeitsplätze würden Menschen in diesem Szenario in die "Gig Economy" getrieben und schlügen sich von einem oft schlecht bezahlten Auftrag zum nächsten gerade so durch.

Anliegen einschlägiger Initiativen zumindest des Bundesarbeitsministeriums sei die ganzheitliche, branchenübergreifende Betrachtung der Arbeitsmarktprozesse, lobt der Autor aber zugleich. Dementsprechend fänden sich langsam auch mehr Belege dafür, dass es "auch im Dienstleistungssektor zu negativen Entwicklungen für Berufsbilder kommt, die bislang als relativ sicher galten". Das Feld Finanz- und Rechnungswesen nebst Buchhaltung etwa weiche dabei "ähnlich negativ vom Basisszenario ab, wie die gefährdeten Berufsgruppen im verarbeitenden Gewerbe". Insgesamt würden "Potenziale neuer Technologieanwendungen im Dienstleistungssektor", die sich heute schon teils deutlich abzeichneten, aber hierzulande nicht ausreichend gewürdigt.

Gerade Investmenthäusern eröffne sich durch den Einsatz von Software, die zu einer Reduktion der Anzahl an Wertpapierhändlern führt, enorme Einsparungspotenziale", erläutert Lorenz. Seien Experten früher noch davon ausgegangen, dass sich Bankangestellte mit zunehmendem Einsatz von Computern zu Anlageberatern weiterentwickeln könnten, so seien just diese Tätigkeitsprofile inzwischen zunehmend von Automatisierung bedroht. Die Hochfinanz geriere sich als Vorreiter: Bei Goldman Sachs etwa ersetze ein Softwareingenieur im Bereich des Devisenhandels vier traditionell dort Beschäftigte.

Dazu kommen dem Forscher zufolge etwa "Spracherkennungssysteme statt Übersetzer", auch Bürotätigkeiten wie die Terminkoordination sowie Jobs von Kassierern oder Einzelhandelskaufleuten fielen verstärkt weg. Industriepolitische Strategien reichten also nicht aus, um den Wandel des gesamten Arbeitsmarktes adäquat zu adressieren. Der Staat müsse hier seinen Blick erweitern und "wichtige Regelungsaufgaben übernehmen". Weiterbildung sei das Stichwort, damit Beschäftigte einmal erworbene Qualifikationen ständig verbessern könnten. Entscheidend sei daher, dass der geplante Ausbau Bundesagentur für Arbeit in dieser Hinsicht erfolgreich über die Bühne gehe und auch die Gewerkschaften einbezogen würden.

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