Technik statt Ritalin: Start-up will ADHS-Symptome mit einem Wearable mildern

Mit einem Wearable will das australische Start-up Neurode die Symptome von ADHS-Patienten tracken und mildern.

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Frau mit Wearable-Stirnband zur ADHS-Behandlung auf dem Kopf

Das australische Startup Neurode will ADHS-Symptome mit einem Wearable tracken und mildern.

(Bild: Screenshot: Neurode)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Kathrin Stoll

Laut einer im Jahr 2020 vorgenommenen Erhebung haben weltweit mehr als 366 Millionen Erwachsene ADHS. Außer verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Medikinet, das landläufig als Ritalin bekannt ist, gibt es wenige Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene. Zwar können auch Verhaltenstherapien und gewisse Anpassungen in der Lebensführung helfen, die Symptome zu lindern, jedoch kann die Kondition beides erschweren.

Das australische Start-up Neurode will mit einem Wearable neue Behandlungsmöglichkeiten erschließen. Ein Stirnband soll ADHS-Symptome, wie etwa Konzentrationsschwierigkeiten, erfassen und behandeln können. Um die Gehirnaktivität zu überwachen, kommt Licht zum Einsatz; um die Symptome zu lindern, wird der präfrontale Kortex mit sanften Elektroreizen stimuliert. Es 20 Minuten täglich zu tragen, soll bereits eine Verbesserung herbeiführen. Manche Nutzer fühlen dabei laut dem US-amerikanischen Onlinemedium Techcrunch ein leichtes Kitzeln, andere bemerken davon gar nichts.

Neurode-Gründerin Nathalie Gouailhardou hat selbst eine ADHS-Diagnose seit sie fünf Jahre alt ist. Gegenüber Techcrunch sagte sie, dass Medikamente ihr nie wirklich geholfen hätten. In ihrem Fall hätten Nebenwirkungen wie Schlafstörungen und gesteigerte Angstempfindungen gegenüber dem potenziellen Nutzen immer überwogen.

Die Idee zu dem Wearable kam der Neurowissenschaftlerin bei der Arbeit mit funktionalen Nahinfrarotspektroskopie-Geräten (fNIRS) in einem medizinischen Forschungslabor. Diese nicht invasiven optisch-bildgebenden neurowissenschaftlichen Instrumente sind mit Lichtquellen und Sensoren ausgestattet und werden wie ein Stirnband auf den Kopf gesetzt. Aktive Teile des Gehirns benötigen mehr Sauerstoff, der Blutfluss nimmt dort zu. Das Stirnband schickt nah infrarotes Licht durch Kopfhaut und Schädel durch das Gehirn. Das Blut im Gehirn absorbiert und streut das Licht je nach Sauerstoffgehalt. Sensoren erfassen das zurückgestreute Licht, was Rückschlüsse auf die Gehirnaktivität zulässt. Die Anwendung der Geräte ist vergleichsweise kostengünstig, nebenwirkungsfrei und in realen Lebenssituationen bei hoher Bewegungsfreiheit möglich, weshalb fNIRS zum Beispiel in der sportpsychologischen Forschung oder zur Forschung an Kindern genutzt wird, etwa in Studien über den Spracherwerb.

Gouailhardou wollte die Technik aus dem Labor holen und nutzen, um ADHS zu behandeln. Neurode gründete sie 2021 zusammen mit ihrem Freund und Mitgründer Damien Sofrevski. Zum Patent haben sie das Stirnband im selben Jahr angemeldet. Seither konnte Neurode 3,5 Millionen Dollar Investorengelder einsammeln, die das Start-up für klinische Studien aufwendet. Derzeit wird das Gerät in einer geschlossenen Beta getestet. Gouailhardou hofft, dass das Gerät eine FDA-Zulassung bekommen wird, einen Zeitplan für die Beantragung gibt es aber noch nicht.

Ein Mitarbeiter der Risikokapitalgesellschaft Khosla Ventures, sagte gegenüber TechCrunch, seine Firma habe in Neurode investiert, weil die ADHS-Behandlung reif für Innovationen sei. Ritalin wurde zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Außerdem habe ihm gefallen, dass das Gerät für den Heimgebrauch konzipiert sei. Die besten wissenschaftlichen Methoden würden schließlich nichts bringen, wenn Menschen sie nicht benutzen könnten.

Neu ist die Idee, statt auf Medikamente auf elektrische Stimulation des Gehirns zu setzen, nicht. In Deutschland forscht etwa die Arbeitsgruppe „Noninvasive Brain Stimulation Lab“ an der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Göttingen an der Entwicklung von Methoden zur nicht-invasiven Gehirnstimulation. Im Gespräch mit heise online sagte die Leiterin der Arbeitsgruppe, Andrea Antal, dass nicht-invasive Gehirnstimulation schon seit Jahren eingesetzt wird, um etwa die Symptome von Depressionsleidenden oder Schmerzpatienten zu verbessern. In ihren Studien zeige sich bei 70 bis 80 Prozent der Patienten eine Besserung. Auch um ADHS-Symptome zu mildern, hält sie den Ansatz für potenziell wirksam.

Trotz der geringen Nebenwirkungen wird elektrische Stimulation derzeit nicht häufig eingesetzt. Regularien verkomplizieren laut Antal den Einsatz. Grundsätzlich handele es sich bei diesen Therapieformen um Privatleistungen. Lediglich in der stationären Behandlung werde die magnetische, nicht jedoch die elektrische Gehirnstimulation von den Krankenkassen übernommen. Grund sei unter anderem die vergleichsweise dünnere Studienlage.

In den USA wurde 2019 ein Gerät für den Heimgebrauch FDA-zugelassen, das ADHS-Symptome bei Kindern durch sanfte elektrische Stimulation des Trigeminusnervs mindern soll.

(kst)