Tschernobyl strahlt weiter: Deutsche Experten messen in Sperrzone

Seite 2: "Hier wohnen Menschen"

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Das zum Biosphärenreservat erklärte Gebiet ist inzwischen nicht mehr komplett menschenleer. "Unser Ziel ist heute, die Sperrzone als Territorium der Entfremdung in ein Territorium der Wiedergeburt zu verwandeln", gab Präsident Wolodymyr Selenskyj am 35. Jahrestag der Katastrophe im Frühjahr als Marschroute aus. 2018 wurde bereits ein erstes Solarkraftwerk von einem Megawatt Leistung neben der Atomruine errichtet. Weitere sollen folgen. So der Plan.

Ähnliches ist aus dem benachbarten Belarus von Machthaber Alexander Lukaschenko zu vernehmen. Es gebe immer weniger Orte, in denen die Grenzwerte der Strahlung überschritten würden, sagte er unlängst der Staatsagentur Belta zufolge. "Aber was viel wichtiger ist: Wir produzieren wieder Lebensmittel, die man essen darf. Hier wohnen Menschen, hier werden Familien gegründet und Kinder geboren."

Die Grenze zu Belarus ist nur gut 10 Kilometer vom stillgelegten Kraftwerk entfernt. Die frühere Sowjetrepublik war wie kein anderes Land von der Katastrophe betroffen. Ähnlich wie in der Ukraine wurde ein großes Gebiet im Süden um die Stadt Gomel zum Schutzgebiet erklärt. Die Natur hat sich allmählich die früher vom Menschen bewohnten Flächen zurückerobert. Umweltschützer berichten stolz, dass dort inzwischen zum Teil bedrohte Tier- und Pflanzenarten leben.

In dem Staatlichen Radioökologischen Schutzgebiet stehen noch immer verlassene Wohnhäuser und Betriebe, die weiter zerfallen. 96 Dörfer gab es dort laut der zuständigen Verwaltung. Vor dem Unfall hätten dort 22.000 Menschen gelebt. Andere Gebiete im Süden des Landes, die aus Sicht der autoritären Behörden nicht mehr so stark belastet sind, aber noch regelmäßig überwacht werden, dürfen dagegen bewohnt werden.

Bekannter ist das Tschernobyl-Sperrgebiet jedoch inzwischen als Ziel für Touristen. "Hol dir deinen Schuss Adrenalin", werben Veranstalter für einen Trip zum Unglücksreaktor und die Geisterstadt Prypjat. 2019 war der bisherige Höhepunkt mit über 120.000 Touristen in der Zone. Wegen der Corona-Pandemie ging die Zahl im vorigen Jahr deutlich zu zuück. Doch nun kommen wieder Dutzende vor allem westliche Besucher in die Sperrzone. Selbst in der Werkskantine werden Souvenirs angeboten – und Touren auf Deutsch, Polnisch und Englisch.

Doch ungehindert bewegen können sich die Touristen nicht. Regelmäßig werden inzwischen die Straßen nach Prypjat und zum ehemaligen Kraftwerk in der Sperrzone für mehrere Stunden gesperrt. Grund sind die Atommülltransporte vom Nasslager für verbrauchte Brennstäbe der drei stillgelegten Kernreaktoren sowjetischer Bauart in das nahe mit europäischen Geldern errichtete neue Trockenlager.

"Sie kündigen das meist nur kurzfristig an", beklagt sich Tschernobyl-Tourguide Olha. Dann müssen die Touristengruppen außerhalb der 10-Kilometer-Sperrzone warten. Insgesamt sollen so über 21.000 Brennstäbe fachgerecht gesichert und einbetoniert die nächsten 100 Jahre in der Sperrzone zwischengelagert werden.

Und das ist nicht das einzige Atommülllager im Sperrgebiet. Knapp zwölf Kilometer Luftlinie westlich vom Unglücksreaktor hat die Ukraine ein Areal für mehrere Zwischenlager eingerichtet. "Zum heutigen Tag sind zwei Lager in Betrieb, die Abfälle aufnehmen", erklärt der Leiter des Komplexes, Serhij Kirjejew. 82 Mitarbeiter seien es aktuell. Fünf Prozent der Kapazitäten für schwach- und mittelradioaktive feste Abfälle vor allem industrieller und medizinischer Herkunft seien schon belegt.

50 bis 100 Jahre sollen sie vor Ort bleiben. Insgesamt ist das Areal bereits jetzt auf 300 Jahre ausgelegt. Und eine zweite Linie ist bereits projektiert. Der Bauplatz wird vorbereitet. "Das wird ein Komplex an Lagerstätten für hochaktive radioaktive Abfälle", erklärt der 35-Jährige.

Kiew ist vertraglich verpflichtet, in der russischen Anlage Majak wiederaufbereiteten Atommüll aus seinen Kernkraftwerken wieder zurückzunehmen. Diese radioaktiven Abfälle sollen in Kirjejews Komplex für 100 Jahre zwischengelagert werden. Losgehen soll es 2022 oder 2023. Doch für lang strahlende Abfälle sind die oberirdisch errichteten Zwischenlager keine Lösung. Auch die Ukraine sucht ähnlich wie Deutschland noch nach einem unterirdischen Endlager für diese atomaren Hinterlassenschaften.

(mho)