USA: Verbindliche Standards dürfen frei veröffentlicht werden​

Seite 2: Unpraktische Lesestationen als Bumerang

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Die Standardisierungsgremien verwiesen vergeblich auf die gebührenfreien Lesestationen, die sie an verschiedenen Standorten eingerichtet haben. Diese erwiesen sich juristisch sogar als Bumerang. Erstens gab es vor den Veröffentlichungen der Stiftung nur ein einziges solches Terminal in den USA. Zweitens untergraben diese Lesestationen das Argument des Einnahmeverlustes durch die gebührenfreie Veröffentlichung im Internet bis zu einem gewissen Grad. Drittens sind die Terminals so userfeindlich gestaltet, dass die Veröffentlichung der Standards auf der Webseite von Public.Resource.Org um Eckhäuser besser ist – so viel besser, dass die Bereitstellung als "transformative" gilt. Und andere Darstellungs- oder Nutzungsformen sind regelmäßig ein Argument für Fair Use.

"Die Leseräume der Kläger bieten keinen äquivalenten oder wenigstens komfortablen Zugang zu den (verbindlichen) Standards. Unter anderem kann man den Text nicht durchsuchen, ausdrucken oder herunterladen, und man kann ihn nicht vergrößern, ohne, dass er unscharf wird", hält das Berufungsgericht fest, "Oft kann ein Leser nur einen Teil der Seite auf einmal sehen, und, nach Zoomen, muss er von rechts nach links scrollen um eine einzelne Zeile Text zu lesen. Die Postings von Public.Resource.Org leiden unter keinem dieser Mängel."

Damit darf die Stiftung rechtsverbindliche Standards auch weiterhin veröffentlichen – allerdings nur in der verbindlichen Form. Häufig werden die Standards weiterentwickelt, während das US-Gesetz noch auf die alte Fassung verweist. Für Einblick in diese neuen (noch) nicht verbindlichen Standards dürfen die Herausgeber weiterhin ihr Monopol verwerten.

In Deutschland ist die Situation ähnlich, die Rechtslage aber völlig anders. Auch hier legen nicht vom Volk gewählte Experten in tausenden rechtsverbindlichen Standards fest, wie sich Bürger zu verhalten haben. Die Vorschriften kommen hier meist von Vereinen, auf deren Werke der Gesetz- oder Verordnungsgeber bloß verweist, gerne auch "in der jeweils gültigen Fassung". Ändert der herausgebende Verein dann die Norm, ändert sich automatisch die Rechtslage.

Wer wissen möchte, was gerade gilt, muss entweder bezahlen, oder zu bestimmten Öffnungszeiten ein Terminal aufsuchen. Gebührenfrei ausdrucken oder gar online lesen ist nicht. 90 Terminalstandorte sind über das Bundesgebiet verstreut; beispielsweise gibt es zwei in Hannover, einen in Brandenburg, keinen im Saarland. Besonders viele Standards kommen vom Deutschen Institut für Normung e. V. (DIN), dessen größte Finanzquelle die Zugangsgebühren für Standards sind.

Im deutschen Urheberrechtsgesetz gibt es sogar einen eigenen Absatz, der dieses Geschäftsmodell schützt. Paragraf 5 erklärt in Absatz 1, dass "Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfasste Leitsätze zu Entscheidungen keinen urheberrechtlichen Schutz" genießen. Doch Absatz 3 nimmt "private Normwerken" davon aus. Deren Rechteinhaber müssen zwar Dritten das Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung einräumen, aber nicht gebührenfrei, sondern zu "angemessenen Bedingungen."

Das Oberlandgericht Hamburg hat 2017 abgelehnt, die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung überprüfen zu lassen (27.07.2017, 3 U 220/15 Kart) und Public.Resource.Org zur Unterlassung der Veröffentlichung von DIN-Normen sowie Kostentragung verurteilt. 2021 scheiterte die Organisation mit einem Antrag an den Europäischen Gerichtshof (EuGH, Rechtssache T-185/19).

Dort versuchte sie, gemeinsam mit der irischen Organisation Right to Know freien Zugang zu rechtsverbindlichen CE-Normen für Sicherheit von Spielzeug zu erstreiten. Die Kläger argumentierten, unter anderem, dass Normen nur in so geringem Ausmaß kreativ seien, dass die gar nicht die für Urheberrechtsschutz notwendige Schöpfungshöhe erreichen. Die EU-Kommission hatte die Herausgabe dennoch abgelehnt, was der EuGH bestätigt hat: Es liege nicht an der EU-Kommission, zu überprüfen, ob rechtsverbindliche Standards dem Urheberrecht unterliegen. Das sei Aufgabe nationaler Gesetzgeber und Gerichte.

(ds)