"Vermessung der Internetsucht": Nutzer können sich für Studie überwachen lassen

Forscher wollen untersuchen, ab wann die alltägliche Internetnutzung in Online-Sucht übergeht. Interessierte werden per App getrackt – angeblich anonym.

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(Bild: Syda Productions/Shutterstock.com)

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Wann wird die alltägliche Internetnutzung bei der Arbeit oder während der Freizeit zur Sucht? Forscher der Universitäten Lübeck und Ulm wollen dieser Frage in einer nach ihrer Darstellung "groß angelegten Studie" auf den Grund gehen. Mit einer eigens entwickelten App soll dafür das Online-Verhalten der Teilnehmer erhoben und ausgewertet werden. Bei Bedarf erhalten Nutzer Handlungsempfehlungen bis hin zu Therapie-Angeboten.

Die Analyse erfolgt im Projekt für einen "Stepped-Care-Ansatz zur Versorgung Internetbezogener Störungen" (Scavis), dem auch Betriebskrankenkassen, Therapiezentren und Gesundheitsdienstleister angehören. Besonders in Zeiten der Corona-Pandemie sei das Internet für viele Menschen unverzichtbar, erklären die beteiligten Wissenschaftler. Das Netz sei etwa nötig, um im Homeoffice arbeiten zu können, Kontakte zu halten oder sich vom Alltag abzulenken. Letzteres erfolge oft durch Social Media-Angebote oder Computerspiele. Doch die Grenzen zu ungesundem Verhalten seien fließend.

Die Macher der Studie wollen daher "spezifische Internetsucht-Variablen" erheben und Handlungsempfehlungen geben, die Betroffenen eine "ausgewogene Internetnutzung" ermöglichen sollen. Ziel ist es, ein "umfassendes Interventionsangebot" zu erarbeiten und Teilnehmern ein weitreichendes Konzept anzubieten.

Die Wissenschaftler haben für die Untersuchung eine smart@net-App programmiert. Damit werde es möglich, die Online-Aktivitäten der Studienteilnehmer "anonym zu erfassen und auszuwerten", erklären sie. In einer Frage-Antwort-Liste heißt es dazu, man solle die Anwendung auf einem "eigenen privaten Smartphone" installieren – nicht etwa auf einem dienstlichen. Weder der Arbeitgeber noch die Krankenkasse würden etwas über die "individuellen Studienergebnisse" erfahren.

Beteiligte sollen zunächst einige Fragen beantworten. Ergeben sich bei diesem "Screening" leichte Auffälligkeiten "bis hin zu einer problematischen Internetnutzung", bestehe die Möglichkeit, am weiteren Verlauf der Studie teilzunehmen. Dabei werde optional für vier Wochen die Smartphone-Nutzung über die App aufgezeichnet ("Tracking"). Erfasst werden Benutzersitzungen allgemein sowie summierte und individuelle Nutzungen von Anwendungen. Telefonnummern zu ein- und ausgehenden Anrufen, deren Inhalte, übertragene Nachrichten und Sprachaufzeichnungen sollen außen vorbleiben.

Werden die Online-Aktivitäten als problematisch eingestuft, erhält der Proband in der sogenannten Interventionsgruppe individuelle Rückmeldungen. "Dadurch werden psychologische Prozesse angestoßen, die eine Verhaltensänderung ermöglichen können", erklärt der wissenschaftliche Studienleiter Hans-Jürgen Rumpf von der Universität zu Lübeck die Wirkungsweise der Anwendung.

Betroffene sollen zudem eine kostenlose telefonische Beratung oder Online-Therapie der Uni Mainz und der FU Berlin in Anspruch nehmen können. Doch auch unauffällige Teilnehmer profitieren, meinen die Forscher: "Sie erhalten Empfehlungen, die ihnen dabei helfen, das eigene Online-Verhalten zu reflektieren und auch in Zukunft zu kontrollieren."

Die Ablenkungsmöglichkeiten im Netz seien immens und könnten "die gesamte Tagesplanung durcheinander bringen", wissen die Experten. "Die Technologie-Konzerne hinter Social Media & Co. haben großes Interesse daran, unsere Verweilzeiten auf ihren Online-Plattformen zu verlängern", betont Christian Montag, Leiter einer Psychologie-Abteilung der Uni Ulm. "Ihre geschickten Strategien wie Push-Nachrichten oder Like-Buttons bringen viele von uns dazu, unsere Handlungen im Alltag zu unterbrechen, um nur mal kurz online vorbeizuschauen." Diese dauernden Einschnitte können laut dem Professor "unsere Leistungsfähigkeit und Produktivität reduzieren".

Den Scavis-Forschungsverbund leitet die Berliner Firma Convema-Versorgungsmanagement, die auf digitale Gesundheitsanwendungen spezialisiert ist. Fördergeld kommt vom Innovationsfonds des Gesundheitssektors. Ein weiterer Partner ist der Verein Media Protect, der sich gegen Formen "problematischer Mediennutzung" einsetzt.

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Eine Vielzahl großer Betriebe hat den Machern zufolge bereits ihren Wunsch nach einer Teilnahme bekundet. Auch Interessierte außerhalb von Firmen könnten die für Android- und Apple-Geräte verfügbare App kostenlos installieren und nutzen. Die Aktion laufe ab sofort bis Ende Mai 2022. Minderjährige unter 16-Jahren benötigen das Einverständnis ihrer Eltern oder Sorgeberechtigten.

Daniela Ludwig, die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregierung, fungiert als Schirmherrin der Studie. Sie betonte zum Auftakt, dass digitale Medien "ungemein vielseitig" seien und "uns schneller weltweit miteinander vernetzen" könnten. Man müsse den richtigen Umgang damit aber erst lernen, was auch ein Thema für Erwachsene sei. Mit Scavis würden Mitarbeiter "für das Problem internetbezogener Störungen sensibilisiert", zudem erhielten sie bei Bedarf ein "passgenaues Versorgungsangebot".

(bme)