Vier Wochen Pokémon Go: Lasst Taubsis kommen

Nach vier Wochen ist der Hype um Pokémon Go ungebrochen: Das Spiel erreicht alle Altersgruppen. Bei Intensivspielern kehrt aber langsam Katerstimmung ein – ein Stimmungsbild und Erfahrungsbericht von Gerald Himmelein.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 202 Kommentare lesen
Vier Wochen Pokémon Go: Lasst Taubsis kommen
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah: Gestandener Redakteur hält sich für Hype-resistent, verfällt dafür um so schneller dem einfachen Spielspaß von Pokémon Go. Nach einer Woche bekommt er dafür die Rechnung – Handy-Datenvolumen leer, Game over. Sein Suchtverhalten wohl erkennend, steht er vor der Entscheidung: Die Monster Monster sein lassen oder ungebremst weiterspielen?

Widerwillig lade ich mein Guthaben auf, um mich wieder auf die Jagd begeben zu können. Am Abend drauf geht meine Ehefrau mit mir durch den Tiergarten spazieren und erträgt mit Fassung, wie ich einen Weg entlang der Pokéstops wähle und mich der wilde Starmie im Spiel wesentlich mehr begeistert als die herumlaufenden zahmen Hirsche des Parks. Eine Viertelstunde lang steht sie vor dem Wildschweingehege, während ich mich ein paar Schritte weiter damit abmühe, eine gut verteidigte Arena zu übernehmen.

Ein Erfahrungsbericht von Gerald Himmelein

Gerald Himmelein schreibt seit 1999 für die c't und heise online. Er beschäftigt sich mit Dingen, die einem auf den Fuß (Hardware) ebenso wie mit Dingen, die einem auf die Nerven fallen können (Software). Also von Grafiktabletts und Tastaturen über Malprogramme und 3D-Grafik bis hin zu Windows-Troubleshooting.

Meine Frau weigert sich standhaft, Pokémon Go auch nur auszuprobieren: Sie bleibt Bloons TD 5 verfallen und hat für eine weitere Sucht schlicht keine Zeit. "Aber spiel du nur!" So gehe ich abends allein aus dem Haus und freue mich, wenn die Karte anzeigt, dass in einem nahegelegenen Pokéstop ein Lockmodul steckt: Dort finde ich Gleichgesinnte, die sich über Fundstellen seltener Viecher austauschen ("Da drüben spawnt gleich wieder ein Vulpix") und vergleichen, welche Monster sie schon gefangen haben.

Auch wenn es durchaus Mitspieler in meiner Altersklasse gibt: Die meisten, die ich treffe, haben gerade Schulferien. Ich versuche, dazuzugehören und fühle mich jedes Mal alt, wenn mich das Jungvolk artig siezt. Immer wieder falle durch Ignoranz der Gepflogenheiten auf. Ein 17-jähriger belehrt mich etwas betreten, der Plural von Pokémon sei nicht Pokémons, sondern ebenfalls Pokémon. Hier tut sie sich wieder auf, die Kluft zwischen den Generationen. Mir sind die Monster fremd, für das Zielpublikum sind sie alte Bekannte.

Freunde, Familie und Bekannte beobachten teils belustigt, teils besorgt, wie ich so nebenher Pokéstops leere und wilde Hornlius fange, wenn auf dem Kneipentisch plötzlich das Smartphone vibriert. Viele machen sich erst über das Spiel lustig und wollen dann im Detail wissen, wie es funktioniert. "Was ist eigentlich das Ziel des Spiels?" Für mich: Spaß haben, neue Gegenden und Leute kennenlernen.

"Ist dieses Pokémon Go nicht gefährlich?" Es häufen sich Berichte über Verkehrsunfälle durch unaufmerksame Spieler. Ob die beim Überqueren der Straße aufs Handy schauen, weil sie gerade eine Textnachricht bekommen haben oder wegen eines Fantasiemonsters, ist eigentlich egal. Ich sehe das Problem nicht bei Pokémon Go, sondern allgemein in leichtsinnigem Verhalten.

Und natürlich: "Die Geheimdienste freuen sich bestimmt, dass ihr alle mit Wanzen herumlauft." Ich bezweifle, dass dies das Geschäftsmodell der Entwickler ist. "Wie verdienen die denn Geld?" Geduldig erkläre ich einer Mittfünfzigerin, was In-App-Käufe sind. Sie meint, der Kauf virtueller Gegenstände sei herausgeschmissenes Geld und zündet sich dann eine Zigarette an. Ich zeige ihr in meiner Monstersammlung das Smogon. Sie findet es nicht lustig.

Ein Smogon aus Pokémon Go.

An einem lauen Sommerabend stehe ich neben einem Pokéstop mit Lockmodul, fange mit Mühe ein wild herumflatterndes Zubat und blicke dann um mich. Auf der Bank neben mir sitzen drei Schüler mit abenteuerlichen Frisuren, auf dem Hügel hocken vier Mittelschichtler gemischten Geschlechts, neben mir steht ein viel zu gut gekleideter Gleichaltriger mit Dreitagebart; zwei dunkelhäutige Jugendliche aus dem nahegelegenen Flüchtlingsheim halten leichten Sicherheitsabstand. Nachdem auch der Letzte das Zubat gefangen hat, blicken wir einander zufrieden an und kommen ins Gespräch.

In den folgenden Tagen sehe ich mir genauer an, wer alles sonst noch spielt. PoGo-Spieler sind leicht zu erkennen: Das typische Innehalten, wenn das Smartphone signalisiert hat, ein wildes Pokémon sei in Reichweite, die schneller werdenden Schritte zwischen den Pokéstops, der wütend-enttäuschte Gesichtsausdruck, wenn ein seltenes Monster abgehauen ist, statt im Pokéball gefangen zu bleiben.

Gegen 22 Uhr sehe ich zwei Brüder nebeneinander laufen, geschätzt 12 und 17. Der jüngere spielt, der ältere läuft neben ihm her und hält die Augen für den Straßenverkehr offen. In einem Park, dessen Nachtbeleuchtung schon aus ist, zeigt die Karte ein aktives Lockmodul an. Nach einigen Schritten ins Dunkle höre ich eine freundliche Frauenstimme aus der Schwärze: "Bitte nicht auf den Hund treten." Ein Schwenk mit dem Smartphone bestätigt: Da liegt was Pelziges auf dem Weg, vor einer Parkbank, auf der zwei Mittzwanziger fleißig Fledermäuse fangen.

Auch wir tauschen Fundorte aus: Drüben am Springbrunnen gibt es Seeper; am Marktplatz erscheint immer mal wieder ein Abra. Ich berichte vom Fang eines Kadabras im Alten Friedhof. Ein Mitspieler mit Fahrrad hält, bedankt sich für den Tipp und passt seine Route an.

Pokémon Go: kleine Monstergalerie (5 Bilder)

Das schlafsüchtige Pokémon Abra ...

Neben einem längst verdunkelten Supermarkt entwischt mir ein Nidoran. Als ich mit viel Fleiß die Arena zu übernehmen beginne, schlendert eine Gruppe selbstbewusster Muskelpakete zu mir herüber. "Ey du, das ist aber unsere Arena, die du da angreifst", sagt mir der Anführer im Muscle Shirt. "Bist ja ganz schön hartnäckig", sagt er mit einem Blick auf mein Display. Ich werfe gerade das letzte Pokémon seiner Gruppe aus der Arena. " Macht nix", meint er grinsend und führt seine Kumpels weiter: "Die holen wir uns nachher zurück." Und so geschieht es dann auch.

Am nächsten Tag sitzen auf der Parkbank ein Achtzehnjähriger, eine Dreiundzwanzigjährige und ein Anfangsdreißiger. Geschwister, wie sich herausstellt. Der älteste ist schon auf Level 24: "Ich muss ja dauernd den Hund Gassi führen." Mitten im Gespräch kommt eine tätowierte Spätvierzigerin hinzu, gefolgt von einem Mitfünfziger: Mama will die Powerbank des Juniors ausborgen, Papa bereiten die Zubats Probleme. Später begegnet mir ein pensioniertes Ehepaar, das sich über die Werte seiner Nidoran-Männchen und -Weibchen austauscht. Mir scheint, die ganze Welt spielt Pokémon.

Die Ambitionierten optimieren ihre Spielweise, um schneller in die oberen Levels zu kommen. Sie radeln verbissen feste Routen an Pokéstops entlang und achten darauf, dass der Tacho nicht mehr als 14 km/h zeigt, sonst schlüpfen die Eier nicht. Einige suchen Pokéstop-Dreierkonstellationen auf, versorgen alle mit Lockmodulen und lehnen sich bequem zurück: Lasst Taubsis kommen. Sie sammeln die meistverbreiteten Monster mit den niedrigsten Entwicklungsstufen, aktivieren dann ein "Glücksei" für doppelte Erfahrungspunkte und entwickeln ihre Beute dann am Fließband, um zum nächsten Level zu kommen. Ein Glücksei kostet 80 Cent; aber is ja nur Geld.

Oft führt ein USB-Kabel vom Smartphone in den Rucksack: Ohne Powerbank saugt Pokémon Go den Handy-Akku problemlos innerhalb von zwei Stunden leer. An manchen Smartphones hängt ein zweites Kabel, dort baumelt im Spieler-Ohr ein Hörer, für die akustischen Hinweise auf Pokéstops und Viecher in Reichweite. Das mag alles sehr effizient sein, aber bleibt dabei nicht der Spaß auf der Strecke?

Anfangs waren die Arenen mit Monstern besetzt, die maximal 1000 Wettkampfpunkte (WP) in die Schlacht brachten. Mittlerweile sind Garados-Flugdrachen mit 2000 WP und mehr keine Seltenheit mehr. Neue Spieler haben da keine Chance; schon vier Wochen nach dem Start wird es für Späteinsteiger schwer, Anschluss zu finden.

Am 31. Juli erscheint ein Update der Pokémon-App, das diverse Programmfehler beseitigt und den Pokémon-Radar wegrationalisiert, der nach der ersten Woche eh nicht mehr funktionierte. Gleichzeitig würfelt Niantic die Verteilung der Monster neu: Traf ich im Garten vor meiner Wohnung zuvor täglich mehrere Ponitas mit brennendem Schweif vor, wimmelt es jetzt von wesentlich weniger interessanten Knofensas.

Einen Tag später erreiche ich Level 20. Die ab diesem Level erstmals vergebenen Ultrabälle sind ein deutliches Omen: Plötzlich zieht der Schwierigkeitsgrad beim Monsterfangen steil an. Vormals zutrauliche Taubsis brechen aus den Standardbällen aus; halbzahme Rattfratze verschwinden plötzlich unvermittelt in einer Rauchwolke. Ich gucke mir ein paar YouTube-Videos über Fangtechniken an und lerne dabei nichts Neues.

Zwei Tage später gehen mir die Pokébälle aus: Ein blödes Hornliu war immer wieder entkommen und dann tauchte auch noch ein Zubat auf. Als mir dann der stärkste Tauboga begegnet, den ich jemals gesehen habe, muss ich den Fang mangels Material abbrechen. Noch zwei Tage später erzähle ich Mitspielern traurig von meinem virtuellen Verlust.

Als ich auf Reddit zum wiederholten Mal von "IV" lese, erwischt auch mich das Optimierungsfieber. Die Individual Values sind verdeckte statistische Werte, die das Potenzial eines Pokémon bestimmen. Jemand hat herausgefunden, dass sich der versteckte IV-Wert mit ein paar Berechnungen offenlegen lässt. Hierfür benutzt man entweder eine Tabelle oder einen etwas einfacher zu bedienenden, aber dafür nicht so präzisen IV-Rechner. Da die Tabelle nur die englischen Pokémon-Namen kennt, stelle ich mein Smartphone auf Englisch um. Die Alternative wäre gewesen, dauernd in einer Pokémon-Liste nachzusehen, wie welches Monster in welcher Sprache heißt.

Ich verbringe etliche Stunden damit, die IVs für meine vielversprechendsten Pokémon zu errechnen und vergebe den Wert als Spitznamen. Als ich dann die heißesten Kandidaten mit Power-Ups und Entwicklungen hochpäppele, verschieben sich die Werte plötzlich in unerwartete Richtungen: Vermeintliche Top-Pokémons entpuppen sich als lahme Enten. Habe ich was falsch gemacht? Rechnet die Tabelle verkehrt? Wieder verspüre ich deutliche Anzeichen von Pokéfrust.

In der Redaktion begegne ich einem Kollegen, der neugierig auf mein Smartphone-Display guckt: "Spielst Du noch aktiv Pokémon?", will er wissen. Er sei jetzt auf Level 25 und das reiche ihm jetzt erstmal. Um von Level 15 auf 16 zu klettern, muss man 20.000 Erfahrungspunkte sammeln. Für den Sprung von Level 25 auf 26 braucht er jetzt 190.000 Punkte. Das kann dauern.

Ob Kollege Gieselmann doch Recht hatte mit seiner Prognose, dass sich das Spiel mangels Substanz bald wieder totläuft? Mal sehen: Mittlerweile bin ich kurz vor Level 23.

Gestern habe ich mein zweites Glumanda gefangen – mit einem Monster dieses Typs hatte meine Sucht vor vier Wochen begonnen. Aus Nostalgie habe ich es behalten, trotz seiner lächerlichen Stärke von nur 12 WP. Das neue Glumanda hat 491 Punkte. Das ist immer noch zu wenig für die Arenen, aber wenn ich noch ein paar passende Bonbons ergattere, kann ich daraus ein Glutexo züchten, dessen finale Form ein mächtiger Glurak-Drache sein soll. Den würde ich schon gern mal zu sehen bekommen ...

(Unbekannte) Pokémon (25 Bilder)

Mew

Typ: Psycho
(Bild: Bisafans.de )

(ghi)