Was der Westen von Schwellenländern lernen kann

Weltkonzerne entwickeln ihre Produkte meist vorbei an den Bedürfnissen der Mehrheit der Weltbevölkerung. Entwicklungen aus Schwellenländern nutzen nicht nur den Menschen dort, sondern auch denen der westlichen Welt, meint Vijay Govindarajan.

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Internationale Konzerne entwickeln ihre Produkte vorbei an den Bedürfnissen eines Großteils der Menschheit. Das sagt der Innovationsexperte Vijay Govindarajan in einem Interview mit dem Magazin Technology Review (aktuelle Ausgabe 5/2013 am Kiosk oder direkt im Heise Shop zu bestellen). "Westliche Produkte sind etwa in Indien nur für zehn Prozent der potenziellen Kunden interessant – nämlich für diejenigen, die den westlichen Konsumenten ähneln“, so Govindarajan. "90 Prozent bleiben also ausgeschlossen." Insgesamt würden sechs der sieben Milliarden Menschen weltweit von den Konzernen nicht richtig angesprochen.

Der 63-Jährige Govindarajan ist Professor an der Tuck School of Business am Dartmouth College und war zwei Jahre lang als "Professor in Residence" Chef-Innovationsberater bei General Electric. In einem internationalen Bestseller hat er zusammen mit Chris Trimble den Begriff "Reverse Innovation" geprägt und populär gemacht. Darin propagiert er "umgekehrte Innovationen" als Ausweg aus dem Dilemma. Seine zentrale These: Wenn internationale Konzerne in Schwellenländern Erfolg haben möchten, reicht es nicht, dort einfach abgespeckte Varianten ihrer Standardprodukte auf den Markt zu werfen. Stattdessen müssen sie ihre Produkte in diesen Ländern selbst von Grund auf neu entwickeln. Dabei entstehen oft Innovationen, die anschließend auch in den Industrienationen erfolgreich sind.

"Reverse Innovation ist ein Trend, der gerade erst begonnen hat", sagt Govindarajan. "Aber er wird in den nächsten Jahrzehnten zu einer großen Bewegung werden. Und einem Trend sollte man nicht erst dann Aufmerksamkeit schenken, wenn er sich voll entwickelt hat, sondern wenn er noch am Anfang steht. Also jetzt."

Als Beispiel für reverse Innovationen nennt Govindarajan ein EKG-Gerät für 500 Dollar, das General Electric in Indien entwickelt hat. In den USA kosten solche Geräte rund 20.000 Dollar. "Die indische Maschine wird mittlerweile in 90 Ländern verkauft, darunter auch in den USA", erläutert der Innovationsforscher. "Ein anderes Beispiel: In Indien gibt es eine Herzklinik, die Operationen am offenen Herzen für 2000 Dollar durchführt. In den Vereinigten Staaten kostet das etwa 50.000Dollar. Auf den Cayman-Inseln wurde nun eine riesige Kardiologie eröffnet, die amerikanische Patienten nach dem indischen Vorbild behandelt."

Technology Review veröffentlicht zwei weitere Fallstudien aus Govindarajans Buch "Reverse Innovation": Der Autozulieferer Harman hat mit kleinen Projektteams in Indien und China seine komplexe Infotainment-Software von Grund auf neu geschrieben und dabei stark vereinfacht. Durch ihren modularen Aufbau kann sie jetzt mit geringem Aufwand sowohl in Low-Budget-Wagen als auch in Luxusfahrzeugen implementiert werden. Und in Boston erhöht eine Gesundheitsorganisation die Überlebenschance von HIV-Patienten, indem sie ihnen "Gesundheitspartner" aus ihrem Milieu zur Seite stellt. Das Modell hatte sich zuvor in Haiti und Peru bewährt.

Entscheidend für den Erfolg von reversen Innovationen sei es, so Govindarajan, dass sich westliche Firmen von ihren bisherigen Erfolgsrezepten lösen, denn diese hätten vor allem auf ihren Heimatmärkten funktioniert: "Wenn sie in den Schwellenländern ein lokales Team aufbauen – mit heimischen Talenten, ausreichend Ressourcen und genügend Einfluss auch auf die Kollegen in der Zentrale, werden diese Leute anfangen, anders zu denken." Etwa, indem sie kreative Lösungen entwickeln, um mit einem niedrigen Budget auszukommen.

Die in den Schwellenländern entwickelten Produkte können laut Govindarajan auf zwei Wegen auch Kunden in die Industrienationen nutzen: "Erstens gibt es überall vernachlässigte Märkte, auch in den Industrieländern. Es wird selbst in reichen Nationen immer arme Menschen geben. Zweitens schaffen die Entwicklungen aus Schwellenländern neue Anwendungen und Möglichkeiten, die auch westliche Kunden ansprechen." (grh)