Zahlen, bitte! Scheinbares Antlitz in 3×1,5 Quadratkilometern: Das Marsgesicht

Im Sommer 1976 waren NASA-Fotos der Viking-1-Mission eine kleine Sensation: Schien es doch, als hätte die Sonde auf dem Mars ein riesiges Gesicht fotografiert.

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Inhaltsverzeichnis

Im Sommer 2023 beherrschte für ein paar Tage eine scheinbare Löwin die Schlagzeilen, die angeblich ein Waldstück am Rande Berlins unsicher machte. Schuld war eine wenige Sekunden lange, unscharfe Aufnahme, auf der zur Hälfte ein Wildschwein zu sehen war. Die Szene wirkte auf ersten Blick, als sei statt des streunenden Borstentiers eine Raubkatze zu sehen.

Im Jahr 1976 hingegen beherrschten den Sommer faszinierende Aufnahmen der Viking-1-Raumsonde die Diskussionen. Sie übermittelte Bilder, auf dem ein riesenhaftes Antlitz in den Himmel zu blicken schien, nebst Strukturen wie Pyramiden, die viele Diskussionen über einstiges Leben auf dem Mars befeuerte. Die Lösung des Rätsels gelang erst über 20 Jahre später. Dabei beruhen Löwin wie auch Marsgesicht auf eine unterbewusste Eigenschaft des Gehirns.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Als am 20. August 1975 die Raumsonde Viking 1 startete (gefolgt von Viking 2 am 20 September 1975), erhoffte sich die NASA mögliche Antworten auf die Frage nach Leben auf dem Mars. Dazu hatten die Raumsonden jeweils einen Lander dabei, die auf dem Erdnachbarn landen und die jeweiligen Landeplätze auf Nachweise von möglichen Leben untersuchen sollten. Die beiden Raumsonden selbst umkreisten den Mars und schossen dabei Fotos.

Am 25. Juni 1976 fotografierte Viking 1 aus 1873 Kilometer Entfernung das Cydonia-Mensae-Hochland. Diese Fotos sollten bei der Veröffentlichung durch die NASA sechs Tage später um die Welt gehen: Schien doch auf Bild 035A72 (Die 35 steht für den 35. Orbit von Viking 1, die 72 für das 72. Bild) ein riesiges Gesicht in den Himmel zu blicken, so als hätte es eine außerirdische Zivilisation in den Fels gehauen. Und damit nicht genug, waren in der Nähe Felsformationen zu sehen, die an Pyramiden erinnerten, sowie Strukturen, die die NASA "Inca City" taufte. Ob aus Naivität, oder cleverem Marketing: Die NASA-Namenswahl nach einer versunkenen Kultur, beflügelte ebenfalls die Fantasie.

Das Marsgesicht in der Cydonia-Region, aufgenommen von Viking 1 am 25. Juni 1976. Die schwarzen Punkte sind Bildübertragungsfehler.

(Bild: NASA)

Es passte genau in den Zeitgeist: Der Mars galt damals als bester Kandidat für Leben außerhalb der Erde. Träumereien über Marsianer existierten nicht erst, seit Astronom Giovanni Schiaparellis 1877 beschriebenen Marskanäle um die Welt gingen, deren angeblich künstliche Herkunft aus einem Übersetzungsfehler resultierte. Die Apollo-Mondlandung lag erst wenige Jahre zurück, genau wie der "Film 2001 – Odyssee im Weltraum". In Stanley Kubricks cineastischen Meisterwerk hinterlässt eine außerirdische Zivilisation der Menschheit auf Erde, Mond und um den Jupiter mehrere Monolithen als Artefakte.

Zwar ordneten die NASA-Wissenschaftler die Strukturen als natürlich und das Gesicht als Schattenspiel ein, aber das Marsgesicht ging da schon als Gruß der Marsmännchen um die Welt. Doch was war es denn nun?

Eine Pareidolie ist das Phänomen, dass das Gehirn in Mustern sowie abstrakten Dingen Gesichter, vertraute Figuren oder Gegenstände zu entdecken scheint. Ein Beispiel ist die Wolkenformation, die aussieht, wie eine Katze, oder das Astloch, welches einem Gesicht ähnelt. Pareidolien waren vor Jahrtausenden überlebenswichtig: Der Astrophysiker Harald Lesch meinte dazu einmal sinngemäß, dass es früher sinnvoller war, zehnmal einen Busch in der Dämmerung für einen lauernden Säbelzahntiger zu halten, als einmal einen lauernden Säbelzahntiger für einen Busch. Heute begünstigt die Suche nach einem verborgenen Muster eher Verschwörungstheorien.

Dabei wurde fleißig dementiert: Gerry Soffen, Chefwissenschaftler der Viking-Missionen, stellte klar, dass sich das 3×1,5 Quadratkilometer große Gebilde sich um ein Schattenspiel handelte, und die Formation ganz klar natürlich entstanden sei. Das blieb aber zwecklos – das Marsgesicht war in der Welt und in der Popkultur angekommen.

Die Cydonia-Region, aufgenommen im Jahr 2006 von der ESA-Sonde Mars Express. Das scheinbare Marsgesicht befindet sich in der Mitte.

(Bild: CC BY-SA 3.0 IGO, ESA)

Bücher wurden verfasst, die wilde Geschichten über versunkene Städte in die Bilder interpretierten. Das Marsgesicht sei dabei wie ein Hilfeschrei einer untergehenden Zivilisation an die Erde. Zudem hielt es Einzug in die Popkultur wie Filme oder Computerspiele. Im Point&Click-Adventure Zack McKracken and the Alien Mindbenders ist es ein Schauplatz, im Taktik-Spiel X-COM - Enemy Unknown von 1994 ist es der Ort des Endkampfes. Die Region ist zudem Schauplatz im Schwarzenegger-Film Die totale Erinnerung - Total Recall.

Es dauerte bis 1998, als die NASA-Sonde Mars Global Surveyor mit neuen Aufnahmen buchstäblich Licht ins Dunkel brachte. Die Bilder zeigten eindeutig; Das angebliche Marsgesicht war nichts anderes als eine durch Witterung gebildete Felsformation, die im Schattenspiel den Eindruck eines Gesichts erschuf. Der leitende Wissenschaftler des Mars Global Surveyor, Arden L. Albee vom California Institute of Technology sagte bei der Vorstellung am 6. April 1998. "Jeder, der schon einmal in einem Flugzeug geflogen ist, wird erkennen, dass dies natürlich ist. Auf einem Flug von Washington nach L.A. kann man so etwas an vielen Orten sehen."

Das einstige Marsgesicht, aufgenommen vomr High Resolution Imaging Science Experiment des Mars Reconnaissance Orbiters.

(Bild: NASA)

Das befriedigte natürlich nicht die Verschwörungstheoretiker, die zwanzig Jahre Zeit hatten, eine Geschichte in die Bilder hineinzuinterpretieren, sodass im Jahr 2001 noch schärfere Bilder der Felsformation durch die Sonde angefertigt wurden. Weitere 3D-Aufnahmen steuerte 2006 die ESA-Sonde Mars-Express bei: Sie bestätigten nicht nur die NASA-Kollegen, sondern zeigten zudem, dass die angeblichen Pyramiden ebenfalls nur eine optische Täuschung waren. Die bisher schärfsten Aufnahmen lieferte die NASA-Sonde Mars Reconnaissance Orbiter im Jahr 2007 bei. Somit war das Marsgesicht endgültig entzaubert.

Während die Berliner Löwin nur wenige Tage in den Köpfen der Betrachter herumgeisterte, war das Marsgesicht über zwei Jahrzehnte präsent. Für manche, die in allem eine Verschwörung wittern, existiert es noch bis heute.

(mawi)