Forscherin auf re:publica 24: Blackbox Amazon braucht kritisches Hinterfragen

Big-Tech-Konzerne wie Amazon machen sich als "Nachbarn" in Städten breit, mischen ihren Code mit Beton und setzen Standards. Das weckt "urbanen Ungehorsam".​

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Die Rednerin Maja-Lee Voigt am Rednerpult vor ihrer Präsentation auf der Re:publica

Die Blackbox Amazon brauche mehr kritisches Bewusstsein, sagte Forscherin Maja-Lee Voigt auf der re:publica.

(Bild: Stefan Krempl / heise online)

Lesezeit: 6 Min.

Seit Jahren versuchen IT-Konzerne wie IBM, Google, Huawei und Tesla mehr oder weniger erfolgreich, Städte in "Smart Cities" umzuwandeln und darin nahtlos ihre Online-Dienste zu integrieren. Auch Amazon verfolge diese Strategie verstärkt, erklärte Maja-Lee Voigt, Stadtforscherin an der Leuphana-Universität Lüneburg, am Montag auf der Digitalkonferenz re:publica in Berlin. Dabei gehe es letztlich darum, öffentliche Infrastrukturen in private umzuwandeln, die komplett von Amazon-Services abhängen. Zugleich solle so ein "Modell für unsere kollektive Zukunft" entwickelt werden. Die Politik lasse den US-Konzern oft gewähren oder begrüße angesichts knapper öffentlicher Kassen sogar dessen Engagement. Dabei sei Amazon in keiner Weise dafür demokratisch legitimiert und verfolge letztlich für die Allgemeinheit sinistre Pläne, inklusive des Missbrauches öffentlicher Güter.

Amazon sei nach 30 Jahren mit einer Marktbewertung von knapp 2 Billionen US-Dollar längst viel mehr als ein virtuelles Warenhaus, als das es in der Öffentlichkeit meist aber noch wahrgenommen werde, führte Voigt aus. Der Konzern habe sich zum Cloud-Riesen und größten Hyperscaler entwickelt, mit AWS und etwa im Verlagswesen, im Streaming- und Video-Markt sowie den Sektoren Sicherheit, Gesundheit und Raumfahrt aktiv, wo Unternehmensgründer Jeff Bezos mit Blue Origin eine Art Star-Trek-Ideologie verfolge. Hierzulande seien schon 2019 rund 63 Prozent der Bürger Prime-Mitglieder gewesen. Der nach wie vor im Zentrum stehende Lieferdienst werde ständig ausgebaut und sei etwa im ländlichen Kanada zuverlässiger als die Post. In den USA betreibe Amazon auch einen großen Teil der militärischen Cloud-Infrastruktur.

Big-Tech-Konzerne "sind unsere Nachbarn geworden", verdeutlicht die wissenschaftliche Mitarbeiterin. "Sie beeinflussen Design und Architektur" und verknüpften ihren Code mit "dem Beton der Stadt". Der Assistent Alexa, der Roboter-Staubsauger Roomba und die smarte Türklingel Ring seien dabei Amazons Augen und Ohren, die der Überwachung dienten. Dazu komme der entscheidende Faktor der Bequemlichkeit bei den Diensten des E-Commerce-Riesen. In der "Amazon Town" weckt der Lautsprecher Echo der Forscherin zufolge die Bewohner, Alexa wertet den Schlaf aus, mit Uber geht es zur Arbeit an Robotern und Lagerhäusern vorbei. Im Büro loggten sich die Mitarbeiter in AWS-Dienste ein, auf dem Nachhauseweg nähmen sie ein Paket aus einem Amazon-Schließfach mit zu ihrem Tiny House des Konzernes, das bereits mit der zur Stimmung passenden Playlist und Videos aufwarte. Der Kühlschrank sorge in Eigenregie für Nachschub beim zugehörigen Lieferservice.

Damit stehe Amazon mehr und mehr des Privat- und Geschäftslebens offen, erläuterte Voigt. Je mehr persönliche und öffentliche Daten das Unternehmen extrahiere, umso mehr könnten auch in die Verkaufsprognosen einfließen und die Basis für die künftige Produktion von Waren und Dienstleistungen bilden. Amazon profitiere davon immens, da es "Lösungen für fast jeden Sektor" anbiete. Völlig unklar bleibe dabei aber, wer über die Services entscheide, wer sie programmiere und wer von ihnen repräsentiert werde. Das ganze System sei – genauso wie die es antreibenden Algorithmen – für Außenstehende eine Blackbox.

Die Google-Tochter Sidewalk Labs erzeugte jahrelang Schlagzeilen mit ihrem Waterfront-Prestigeprojekt in Toronto und scheiterte damit letztlich. Das soll auch daran gelegen haben, dass die Menschen vor Ort nicht im Mittelpunkt standen. Amazon mache derweil Nägel mit Köpfen und baue etwa in Arlington im US-Bundesstaat Virginia ein neues Hauptquartier mit Smart-City-Bezug auf, berichtete Voigt. Dazu gehörten Metro- und Straßenverbindungen ins nahe Washington DC sowie "kontrollierte" Viertel und Parks. Der Schwerpunkt liege dabei auf einer "homogenen, weißen" Nachbarschaft, die idealerweise auch bei Amazon arbeite. Auch in die Politik mische sich der Konzern so ein, die aber längst von diesem abhängig sei und keine Exit-Strategie habe.

In Berlin-Friedrichshain ist mit dem umstrittenen Amazon-Tower ebenfalls eine neue Konzernzentrale entstanden. Zudem hat das Unternehmen jüngst Investitionen in Höhe von 7,8 Milliarden Euro im nahen Brandenburg für eine souveräne AWS-Cloud angekündigt. In Nordrhein-Westfalen hat der Konzern im März seinen ersten europäischen "Disaster Relief Hub" eröffnet, über den Partnerorganisationen schneller mit Hilfsgütern für Krisengebiete beliefert werden können sollen.

Doch es formiere sich Widerstand, weiß Voigt, die selbst die interdisziplinäre Forschungsgruppe Akteurinnen für urbanen Ungehorsam mitgegründet hat und damit etwa in Gesprächen mit Angestellten, durch eigene Beobachtungen und die Teilnahme an Konferenzen nach Fehlern in der Amazon-Matrix sucht. Dabei komme dem Team zugute, dass die Firma sich "verantwortungslos" gegenüber ihren Mitarbeitern verhalte, was etwa mit der Zerstörung eines Lagers durch einen Tornado oder dem ständigen Kampf gegen Gewerkschaften deutlich geworden sei. Die Angestellten dienten so nicht nur als gute Informationsquelle, sondern machten auch mit Bummelstreiks und den intensiven Austausch über Online-Dienste auf "unmenschliche Konditionen" aufmerksam.

Es gelte, die städtebaulichen Ideen Amazons stärker zu hinterfragen und an der Code-Entwicklung teilzuhaben, appellierte Voigt an Hacktivisten, die Smart-City-Konzepte unterwandern. Dringend müssten etwa Konzepte für Diversität eingebracht werden. Das sei oft nicht einfach, da nicht jeder Experte für Stadtplanung sein. Genauso entscheidend sei daher die Regulierung über Technik-affine Politiker und der Aufbau leistungsfähiger Open-Source-Architekturen, um Monopole gar nicht erst entstehen zu lassen und an die Macht zu bringen. Nicht jeder müsse sofort sein Prime-Abo kündigen, aber wissen, "was sich damit verknüpft". Noch gebe es alternative Betriebssysteme, Apps und Streaming-Dienste. Die Forscherin riet ferner, auf lokale Händler zu setzen, die schon "in prekärer Lage" seien.

(are)