Europa-Wahl: Schwere Schlappe für deutsche Koalitionsparteien, Erfolge für die Grünen
"Schicksalswahl" wurde die Europawahl vorab tituliert. Sich abzeichnende herbe Verluste für CDU/CSU und SPD könnten auch die Koalition in Berlin erschüttern.
Die Parteien der großen Koalition in Deutschland haben bei der Europawahl ersten Hochrechnungen zufolge historisch schlecht abgeschnitten. Sie erzielten nach Berechnungen für ARD und ZDF so schwache Ergebnisse wie noch nie zuvor bei einer bundesweiten Wahl. Trotzdem bleiben CDU und CSU zusammen stärkste Kraft. Die Sozialdemokraten dagegen fallen auf den dritten Platz. Erstmals bei einer bundesweiten Wahl kommen die Grünen auf den zweiten Rang, sie können über satte Zugewinne bei der Abstimmung am Sonntag jubeln. Die EU-skeptische AfD verbessert ihr Europawahl-Ergebnis deutlich, bleibt aber hinter ihrem Resultat bei der jüngsten Bundestagswahl und hinter den vor der Europawahl geschürten Erwartungen.
Die Einbußen der Regierungsparteien dürften der Frage nach der Stabilität des schwarz-roten Bündnisses in Berlin neue Brisanz verleihen. Denn hinzu kommt: Wie bei der Europawahl verloren die Sozialdemokraten auch bei der zeitgleichen Landtagswahl in Bremen stark – der Stadtstaat war immer eine rote Hochburg. Die CDU lag dort nach den Hochrechnungen 1 bis 2 Prozentpunkte vor der SPD.
Verluste und Gewinne
Die Union erreicht bei der Europawahl nach den Hochrechnungen von ARD und ZDF (ca. 18.20 Uhr) 27,7 bis 27,9 Prozent – deutlich weniger als bei der Europawahl 2014 (35,4 Prozent) und auch schlechter als bei der jüngsten Bundestagswahl (32,9 Prozent). Die Wahl war der erste Stimmungstest für die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsantritt im Dezember, Kanzlerin Angela Merkel hatte sich weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. Die SPD stürzt auf 15,6 Prozent ab. Das sind fast zwölf Punkte weniger als bei der vorherigen Europawahl (27,3 Prozent) und noch schlechter als bei der Bundestagswahl (20,5 Prozent).
Die Grünen legen den Hochrechnungen zufolge auf 20,8 bis 21,8 Prozent zu – etwa eine Verdoppelung gegenüber der Europawahl vor fünf Jahren (10,7 Prozent). Die AfD kommt auf 10,5 bis 10,6 Prozent (2014: 7,1 Prozent). Die Linke liegt bei 5,5 Prozent (2014: 7,4 Prozent), die FDP ebenfalls bei 5,5 Prozent (2014: 3,4 Prozent). Die Freien Wähler kommen auf 2,2 Prozent (2014: 1,5 Prozent), die Satirepartei Die Partei erreicht 2,6 bis 2,7 Prozent (2014: 0,6 Prozent). Auf andere Parteien entfielen laut ZDF-Hochrechnung 9,4 Prozent.
Einen ständig aktualisierten Überblick über die Hochrechnungen und Wahlergebnisse für alle EU-Mitgliedsstaaten bietet das Europa-Parlament auf 2019 European election results.
Enttäuschungen und Begeisterung
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach nach den deutlichen Verlusten seiner Partei bei der Europawahl von einem "enttäuschenden Ergebnis". "Das Ergebnis kann nicht ohne Folgen bleiben", sagte er im ZDF. Auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak reagierte ernüchtert. "Das entspricht nicht unseren Ansprüchen", sagte er im ZDF. Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner bewertete das Ergebnis seiner Partei als Zeichen eines politischen Wandels in Deutschland.
Die Wahlbeteiligung lag bei 59,0 bis 60,0 Prozent - ein deutlicher Sprung nach oben: vor fünf Jahren waren es 48,1 Prozent. Diesmal waren bei der Europawahl in Deutschland 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt. Wichtige Themen im Wahlkampf waren Klimaschutz, Mindestlohn, die Besteuerung von Internetkonzernen sowie die Migrationspolitik und die Internet-Urheberrechtsdebatte. Bestimmt war er auch von Sorgen vor einem Erstarken von Rechtspopulisten, EU-Skeptikern und Nationalisten. Erwartet wurden auch auf europäischer Ebene Verluste bei Christ- und Sozialdemokraten im Vergleich zur Wahl 2014 und Erfolge rechter EU-Kritiker in wichtigen Ländern. Liberalen und Grünen wurden Zugewinne vorhergesagt.
Erwartungen
Die EU-kritische, rechtspopulistische und nationalistische AfD will im Europaparlament eine neue Fraktion mit anderen Rechtspopulisten wie der italienischen Lega und der französischen Partei Rassemblement National bilden. Kurz vor der Wahl war die mit der AfD verbündete FPÖ in Österreich durch die Ibiza-Affäre massiv unter Druck geraten. In Deutschland sah sich zuletzt vor allem die CDU scharfer Youtuber-Kritik ausgesetzt. Zudem hatten in den vergangenen Monaten Zehntausende junge Aktivisten bei den Fridays for Future-Protesten für mehr Klimaschutz demonstriert.
In der SPD dürften die Ergebnisse für neue Unruhe sorgen und den Druck auf Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles weiter erhöhen. Den innerparteilichen Gegnern der großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert liefern die Niederlagen neue Argumente. Ein Bruch der Koalition wurde zuletzt nicht erwartet. Nötig wird aber eine Kabinettsumbildung. SPD-Spitzenkandidatin und Bundesjustizministerin Katarina Barley wird nach Brüssel wechseln. Zuletzt wurde über einen größeren Umbau der Ministerriege spekuliert.
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Nach den Hochrechnungen verteilen sich die 96 deutschen Sitze im EU-Parlament so: CDU/CSU 27 bis 28 Mandate, SPD 15 bis 16, Grüne 21 bis 22, AfD 10 bis 11, Linke 6, FDP 5, auf andere Parteien entfallen demnach 10 bis 11 Sitze. Bei der Europawahl gilt keine Fünf-Prozent-Hürde.
Das Europaparlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung und muss unter anderem dem jährlichen EU-Haushalt zustimmen. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des neuen EU-Kommissionspräsidenten. Nach der Wahl soll möglichst rasch über den Nachfolger des scheidenden Kommissionschefs Jean-Claude Juncker entschieden werden. Die europäischen Christdemokraten haben den CSU-Politiker Manfred Weber als Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt, die Sozialdemokraten den Niederländer Frans Timmermans. Ob tatsächlich einer von ihnen künftig die Kommission führen wird, ist aber offen, da die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder auf ihr Vorschlagsrecht pochen. Sie wollen sich am Dienstag zu einem Sondergipfel treffen.
[Update 26.05.2019 19:16]:
Ergebnisse in Europa
Europaweit dürften die christdemokratische Parteienfamilie EVP und die Sozialdemokraten der S+D laut Umfragen vor der Wahl künftig deutlich schwächer unter den 751 Europaabgeordneten vertreten sein. Erstmals könnten sie gemeinsam keine Mehrheit haben. Die Liberalen, die sich mit der erstmals angetretenen Partei LREM des französischen Präsidenten Emmanuel Macron verbünden wollen, dürften dafür erheblich stärker werden. Die Grünen schnitten zwar sensationell stark ab, aber sie können europaweit keine allzu großen Zugewinne erwarten.
EU-freundliche Parteien werden aller Voraussicht nach auch im neuen Parlament rund zwei Drittel der Abgeordneten stellen. Ob sie breite Bündnisse schaffen, beeinflusst auch die Besetzung von Spitzenposten. Auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten hoffen der CSU-Politiker Manfred Weber, dessen EVP trotz allem stärkste Partei werden dürfte, sowie der niederländische Sozialdemokrat Timmermans.
In Österreich legte die konservative ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz deutlich zu, offensichtlich eine Folge des Videoskandals um den früheren Koalitionspartner FPÖ. In den Niederlanden – das bestätigten Trends, die das Europaparlament am Sonntagabend veröffentlichte – lagen die Sozialdemokraten um den Europa-Spitzenkandidaten Frans Timmermans völlig unerwartet vorn.
Insgesamt waren mehr als 400 Millionen Wahlberechtigte in 28 Ländern dazu aufgerufen, die 751 Abgeordneten im EU-Parlament zu wählen. Offizielle Ergebnisse wurden erst nach Schließung der letzten Wahllokale in der EU um 23:00 Uhr in Italien erwartet.
[Update 26.05.2019 20:55]:
In Frankreich hat die inzwischen als "Rassemblement National" firmierende rechtspopulistische Partei von Marine Le Pen ersten Prognosen zufolge mit rund 24 Prozent in etwa das Ergebnis von 2014 gehalten (damals als "Front National"). Damit rangiert sie erneut an der Spitze, knapp dahinter folgt mit mehr als 22 Prozent "La République en Marche" von Staatspräsident Emmanuel Macron. Dahinter kommen demnach die Grünen mit rund 13 Prozent. Die Republikaner und die Sozialisten, die jeweils mehrere Präsidenten stellten, kommen zusammen wohl auf gerade einmal 15 Prozent.
[Update 26.05.2019 21:10]:
Sitze für deutsche Kleinparteien
Inzwischen gibt es auch Prognosen zu den Sitzverteilungen für die deutschen Kleinparteien: Demnach kommen die Partei und die Freien Wähler jeweils auf 2 Sitze im Europaparlament. Die ÖDP, die Familienpartei, Volt und die Parteien könnten demnach jeweils einen Abgeordneten entsenden.
[Update 27.05.2019 07:30]:
Erfolg für die Piraten
Weil die tschechische Piratenpartei in ihrem Land mit fast 14 Prozent der Stimmen drittstärkste Partei wurde, können sie drei Abgeordnete ins Europaparlament entsenden. Da auch die deutschen Piraten – diesmal mit dem ehemaligen Landtagsabgeordneten Patrick Breyer – wieder ins Europaparlament einziehen werden, kommt die Partei insgesamt nun auf vier Abgeordnete.
[Update 27.05.2019 08:00]:
Vorläufiges amtliches Endergebnis in Deutschland
Die Union ist bei der Europawahl nach dem vorläufigen amtlichen Ergebnis des Bundeswahlleiters trotz Verlusten stärkste Kraft geworden. Die Union aus CDU und CSU erreichte nach Auszählung aller Wahlkreise 28,9 Prozent (29 Sitze) – bei der Europawahl 2014 waren es noch 35,4 Prozent. Dabei ging die Wählerschaft der CDU von 30 auf 22,6 Prozent zurück, die der CUS stieg von 5,3 auf 6,3 Prozent. Die SPD stürzt auf 15,8 Prozent (16 Sitze) ab. Bei der vorherigen Europawahl waren es noch 27,3 Prozent, bei der Bundestagswahl 20,5 Prozent.
Die Grünen legen auf 20,5 Prozent (21 Sitze) zu – fast zehn Punkte mehr als bei der Europawahl vor fünf Jahren (10,7 Prozent). Die AfD kommt auf 11,0 Prozent und 11 Sitze (2014: 7,1 Prozent). Die Linke liegt bei 5,5 Prozent und 5 Sitzen (2014: 7,4 Prozent), die FDP bei 5,4 Prozent und ebenfalls 4 Sitzen. (2014: 3,4 Prozent). Von den anderen Parteien erzielten nur die Freien Wähler (2,2 Prozent, 2 Sitze) und die Satirepartei Die Partei (2,4 Prozent, 2 Sitze) mehr als 2 Prozent. Mit jeweils einem Sitz kommen auch die Tierschutzpartei (1,4 Prozent), die ÖDP (1 Prozent). die Familien-Partei (0,7 Prozent), die paneuropäische Vereinigung Volt (0,7 Prozent) und die Piraten (0,7 Prozent) ins Europaparlament.
Siehe dazu auch:
- Was war. Was wird. Vom Heimatland Europa.
- Kommentar: Warum ich heute nicht wählen gehe
- Generationen in Angst - von Prognosen, vom Überleben und von einer lebenswerten Zukunft
(mit Material von dpa) / (jk)