Indische Online-Zeitung "The Wire" kämpft um Unabhängigkeit und gegen Repression
Kritische Zeitungen haben es derzeit schwer in Indien. Eine kleine Online-Redaktion kämpft gegen Repression und Selbstzensur – und legt sich dafür mit den Mächtigen an.
In einer schäbigen Nebenstraße Neu Delhis keimt neue Hoffnung für den indischen Journalismus. Versteckt zwischen ungeordneten Stromkabeln und klapprigen Klimaanlagen findet sich eine Tür. Der Lack blättert ab, doch das angeheftete Banner strahlt in hellem Rot: "The Wire" steht in Großbuchstaben darauf, "Der Draht" also. Möglicherweise ist damit der Draht gemeint zwischen den indischen Lesern und einem glaubhaften, neutralen Journalismus im öffentlichen Interesse, den diese Online-Redaktion wieder herstellen will.
In dem engen Büro hinter der Tür tippen gut 20 Journalisten emsig Geschichten – auf Englisch, Hindi und Urdu, der Sprache der muslimischen Minderheit. Im Nebenraum wird mit einfachen Mitteln eine politische Talkshow gedreht.
Journalismus zum Nutzen der Allgemeinheit
Das Nachrichtenportal "The Wire" ist mit einem neuen Geschäftsmodell angetreten. Es setzt auf einen gemeinnützigen Journalismus, der sich größtenteils aus Spenden finanziert. Hauptsponsor ist die Stiftung "Independent and Public Spirited Media Foundation" (IPS), die wiederum von einem guten Dutzend vermögender indischer Geschäftsleute finanziert wird – die laut IPS-Satzung allerdings keinen Einfluss auf Inhalte oder die Auswahl der geförderten Medienunternehmen haben. Auch Leser spenden kleinere Beträge.
Die Redaktion bietet hauptsächlich aufwendig recherchierte Hintergrundberichte an – abseits der in Indien beliebten Themen wie Astrologie, Bollywood und Cricket. "Zweieinhalb Jahre nach unserer Gründung kann ich unsere ursprüngliche Annahme bestätigen, dass ein Non-Profit-Modell die Möglichkeiten verbessert, objektiv und ehrlich zu berichten", sagt Siddarth Varadarajan, einer der drei "The Wire"-Gründer.
Boom der Zeitungen
Während die Auflage gedruckter Zeitungen in Europa zwischen 2011 und 2015 um fast ein Viertel gesunken ist, erlebte sie in Asien im selben Zeitraum einen Aufschwung um mehr als 38 Prozent, wie der Weltverband der Zeitungen und Nachrichtenmedien (WAN-IFRA) in einem Bericht von 2016 vermerkt. Im Jahr 2015 wurden ganze 62 Prozent aller weltweit verkauften Tageszeitungen in Indien und China gelesen.
Allein in Indien blättern täglich über 300 Millionen Menschen durch eine der mehr als 80.000 Zeitungen, die dort in Dutzenden Sprachen erscheinen. Auch die Zahl der Internetnutzer steigt schnell. Gründe für den Aufwärtstrend sind eine wachsende Mittelschicht und die steigende Alphabetisierungsrate.
Doch die Qualität der Artikel nimmt nach Einschätzung vieler indischer Journalisten ab. Zum einen liegt das am Online-Markt. Wie überall auf der Welt werden mit aufmerksamkeitsheischenden Headlines und hohem Tempo Klickzahlen und Werbeeinnahmen in die Höhe getrieben.
Selbstzensur aus Angst
Hinzu kommen einige indische Besonderheiten: Die Verlage sind von Werbekunden stark abhängig, weil Zeitungen sehr billig sind – eine gedruckte Ausgabe kostet um die vier indische Rupien, also etwa fünf Euro-Cent. Medienunternehmen sind zudem mit anderen Branchen eng verflochten und bieten der Regierung dadurch mehr Angriffsfläche. Die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP zeigt eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber kritischen Medien.
Die Zeitung "The Tribune" veröffentlichte Anfang Januar einen Bericht, der aufdeckte, dass Hacker Zugang zu persönlichen Daten von mehr als einer Milliarde Inder aus der Datenbank des staatlichen Identifikationsprogramms Aadhaar für wenig Geld verkauften. Daraufhin zeigte die für das Programm zuständige Behörde die Autorin des Berichts wegen unbefugten Zugangs zur Datenbank an.
"Die Besitzer von indischen Medienunternehmen haben Angst", sagt Varadarajan. "Angst davor, kritisch zu berichten – und zwar sowohl über die Regierung als auch über die Wirtschaft." Große Firmen drohten zunehmend mit millionenschweren Verleumdungsklagen, berichtet Varadarajan. Um Repressalien durch Unternehmen oder die Regierung zu vermeiden, betrieben viele Medien Selbstzensur.
Keine Angst vor den Mächtigen
"Die Freiheit der Medien ist unvollständig", sagt auch Narasimhan Ram. Der 72-Jährige ist Herausgeber und ehemaliger Chefredakteur von "The Hindu", einer der renommiertesten Tageszeitungen Indiens. Zwar garantiert Artikel 19 der indischen Verfassung die freie Meinungsäußerung. Doch ist diese eingeschränkt – wenn etwa die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder Anstand und Moral gefährdet sind. "So bleiben verschiedene Grauzonen", erklärt Ram.
"The Wire" will ausbrechen aus dem Kreislauf aus Abhängigkeit, Gängelei und Selbstzensur. So schreckte das Portal im vergangenen Herbst nicht davor zurück, sich mit einem der mächtigsten Männern Indiens anzulegen – mit BJP-Chef Amit Shah: "The Wire" berichtete, dass die Firma von dessen Sohn im Jahr nach dem Wahlsieg der Partei 2014 ihren Umsatz auf dubiose Weise um das 16.0000-Fache und ihren Gewinn von 50.000 auf 800 Millionen Rupien gesteigert habe.
Nun hat die kleine Online-Redaktion eine Verleumdungsklage am Hals. Es geht um mehr als eine Milliarde Rupien – rund 13 Millionen Euro. Varadarajan und sein Team sehen dem weiteren Prozess gelassen entgegen. Zumindest die höheren Instanzen des indischen Rechtswesens, davon sind sie überzeugt, stehen noch auf der Seite der Pressefreiheit. Vorerst sorgt die Episode für ein dickes Plus in den Finanzen: Die Einzelspenden von Lesern haben sich in der Woche nach dem Bericht mindestens verdreifacht. (mho)