Kommentar zum Coronavirus: COVID-19 ist keine einfache Grippe

Veranstaltungs-Absagen ohne Ende, abstürzende Börsenkurse – ist die Aufregung übertrieben? Nein, findet Torsten Kleinz. Die Lage ist ernst.

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Kommentar zum Coronavirus: Covid-19 ist keine einfache Grippe

(Bild: Maridav/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
Inhaltsverzeichnis

Die Hoffnung ist vorbei, dass wir in Deutschland die Variante SARS-CoV-2 des Coronavirus abschirmen könnten. Am Montag wurden die ersten Todesfälle durch COVID-19 (die Lungenkrankheit, die von SARS-CoV-2 ausgelöst wird) in Deutschland offiziell bestätigt. Wir sind nun in der nächsten Phase der weltweiten Pandemie: Die Krankheit ist in Deutschland, sie wird bleiben und sie wird Schäden anrichten. Nun gilt es, diese Schäden auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken.

Ein Kommentar von Torsten Kleinz

Torsten Kleinz konzentriert sich als freier Journalist auf Internetkultur und Netzpolitik. Für heise online schreibt er zum Beispiel regelmäßig über die neuesten Streitigkeiten rund um Adblocker.

Mehrere Kollegen witterten Hysterie oder gar "Bullshit", als sie die allumfassende Berichterstattung und die Maßnahmen der Eindämmung betrachteten. Doch COVID-19 ist eben nicht die saisonale Grippe, die mittlerweile zur alljährlichen Normalität in Deutschland gehört, obwohl immer wieder Hunderte Menschen an ihr sterben. Stattdessen haben wir es mit einer Pandemie zu tun, die sich im schlimmsten Fall exponentiell ausbreiten kann, was in mehreren Ländern bereits passiert ist.

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Zwar sind die Symptome und Ansteckungsarten ähnlich wie bei der Grippe. Ein zentraler Unterschied ist jedoch: Wir haben gegen das neue Coronavirus keine Impfstoffe, keine getesteten Medikamente und keine Grundimmunität in großen Teilen der Bevölkerung. Auch wenn die meisten Patienten die COVID-19-Erkrankung schließlich überstehen, so ist doch ein erheblicher Anteil von ihnen auf langwierige und intensive medizinische Versorgung angewiesen. Laut WHO muss einer von fünf Patienten im Krankenhaus versorgt werden. Viele brauchen künstliche Beatmung. Die gute Nachricht: Deutschland hat mit 28.000 Intensivbetten eine überdurchschnittlich gute Versorgung anzubieten.

Doch diese Betten können nicht mal eben für nur eine Krankheit reserviert werden. Krebspatienten und Unfallopfer benötigen sie ebenso wie Patientinnen mit Blinddarmdurchbruch oder Komplikationen bei einer Geburt. Werden die Krankenhäuser bei ungehinderter Ausbreitung der Coronavirus-Infektionen mit einer Krankenwelle überschwemmt, dann stehen weniger Kapazitäten für andere Erkrankte bereit. Und da man den Ärzten keine präventive Impfung geben kann, ist die medizinische Versorgung nochmals besonders gefährdet.

Die Hoffnung, dass sich die Krankheit mit den wärmeren Temperaturen im Nichts verlaufen könnte, scheint sich nach heutigen Kenntnissen nicht zu bestätigen, wie etwa Christian Drosten, Leiter der Virologie in der Berliner Charité ausführt. Die Leidtragenden werden vor allem Menschen mit geschwächtem Immunsystem sein. Während Kinder teilweise nur schwache Symptome zeigen, ist der Virus für Ältere und Patienten mit Vorerkrankung überproportional häufig tödlich.

Auch weil Kinder keine oder nur sehr schwache Symptome zeigen, ist es unwahrscheinlich, dass sich eine Ausbreitung der Krankheit ohne extreme Maßnahmen stoppen lässt: Man kann keine Überträger isolieren, wenn man nicht erfährt, dass diese überhaupt krank waren. Aber es ist möglich, die Ausbreitung wesentlich zu verlangsamen, indem man das öffentliche Leben auf Sparflamme stellt. Und das geht nur, wenn die Notwendigkeit gesellschaftlich akzeptiert ist.

Noch windet sich die Bundesregierung. Bundesgesundheitsminister Spahn empfiehlt zwar die Absage von Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern, eine Absage der CDU-Vorsitzendenwahl mit 1001 Delegierten will er jedoch noch nicht vorhersagen. Auch bei Bundesligaspielen sollen die örtlichen Gesundheitsbehörden entscheiden – und die Bürger selbst, an deren Eigenverantwortlichkeit er appelliert. "Auf was kann man leichter verzichten: Auf das Fußballspiel oder den Weg zur Arbeit?", fragte der Minister etwa am Montag.

Wie auch immer man die Handlungen der Bundesregierung bewertet – wahr ist: Ohne die aktive Mithilfe der Bürger geht es nicht. Zwar sind viele Maßnahmen die gleichen wie bei der Vorsorge einer normalen Grippe-Epidemie – doch hier haben wir einen großen Nachholbedarf. Zum Beispiel ist korrektes Händewaschen bisher alles andere als die Norm, wie man etwa in öffentlichen Toiletten beobachten kann.

Auch die Angewohnheit sich mit handfesten Erkältungssymptomen erst in den Nahverkehr und dann zum Arbeitsplatz zu schleppen, muss nicht nur kurzfristig infrage gestellt werden. Eine Unbedarftheit in medizinischen Fragen kann sich ebenfalls rächen: So scheinen viele Leute den Unterschied zwischen einer viralen Grippe und einem eher harmlosen grippalen Infekt trotz jahrelanger Impfkampagnen immer noch nicht verinnerlicht zu haben.

Eine gewisse mediale Hysterie ist leider nicht zu vermeiden. Bis auch der letzte die wichtigsten Botschaften zur Krankheitsvermeidung vernommen und die Notwendigkeit zum Teil schmerzhafter Einschnitte vermittelt bekommen hat, müssen die Informationen in Dauerwiederholung auf allen möglichen Kanälen verbreitet werden. Um tatsächlich Verhaltensweisen zu ändern, benötigt es sozusagen eine wohltemperierte Panik, die den Einzelnen hindert, das Phänomen zu ignorieren, gleichzeitig aber ihnen Chancen und Anreize gibt, das Richtige zu tun und nicht das eigene Glück mit einem schwunghaften Schwarzmarkthandel mit Desinfektionsmitteln zu versuchen. Stattdessen ist Solidarität gefragt, wenn etwa Kollegen nicht zur Arbeit erscheinen, Freunde und Nachbarn zu Hause in Quarantäne festsitzen oder Gefährdete sich nicht selbst ohne Risiko versorgen können.

In der Krise offenbaren sich Probleme, die sonst eher toleriert werden. Wenn Arbeitgeber wie selbstverständlich voraussetzen, dass Mitarbeiter auch mit Erkältungssymptomen weiter am Arbeitsplatz erscheinen, kann dies zu einer Betriebsstilllegung führen, wenn sich ein solcher Kollege als Coronavirus-Patient entpuppt. Wer seinen Angestellten nicht vertrauen kann, dass sie verantwortungsbewusst mit vereinfachten Krankschreibungs-Regeln umgehen, hat auch außerhalb der Krise ein Vertrauensproblem. Solidarität benötigen auch die vielen, die von den Maßnahmen betroffen sind, aber keine Lohnfortzahlung oder staatlichen Hilfen erwarten können.

Eine Parallele zur IT-Sicherheit drängt sich fast auf: So haben die Erpressungs-Trojaner wie Emotet nicht den beklagenswerten Zustand der IT in Unternehmen und Behörden ausgelöst, aber schmerzhaft zugespitzt, sodass ein "Weiter so" nicht mehr möglich ist. SARS-CoV-2 hat etwa gezeigt, dass Produktion, Vorratshaltung und Verteilung wichtiger Güter wie Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel dringend überarbeitet werden müssen.

Vielleicht finden sich ja in der Krise positive Aspekte. So können Arbeitgeber die zwangsweise erworbenen Erfahrungen mit dem Home-Office nutzen, um ihre Arbeitsabläufe zu verbessern. Vielleicht entdecken mehr Leute das Fahrrad als geeignetes Transportmittel für den Arbeitsweg. Vielleicht verlernen wir aber auch das korrekte Händewaschen wieder und haben lediglich etwas mehr Klopapier für die nächsten Wochen im Vorrat. Es wäre eine verpasste Gelegenheit. (mho)