Missing Link: Beobachter und Nerd – zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci starb vor 500 Jahren. Er galt als Genie und Universalgelehrter und perfektionierte die Kunst, aus Beobachtungen zu lernen.

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Missing Link: Beobachter und Nerd. Zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci

Selbstbildnis (Ausschnitt; Biblioteca Reale, Turin, um 1512)

(Bild: Leonardo da Vinci [Public domain])

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

"Du solltest keine Schwierigkeiten haben, auf Flecken an den Wänden oder die Asche eines Feuers oder die Wolken oder Schlamm zu schauen, und wenn du diese Dinge genau betrachtest, wirst du wunderbare neue Ideen finden, weil der Geist durch unbedeutende Dinge zu neuen Erfindungen angeregt wird."

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Er könnte als Pionier der Zahnkunde gelten. Denn Leonardo Ser Piero da Vinci beschrieb als erster, dass Menschen in der Regel 32 Zähne haben und zeichnete sie samt ihrer Verankerung mitsamt der Wurzeln und Nerven im Kiefer anatomisch korrekt. Er untersuchte die Reibung von Gegenständen auf schiefen Ebenen und erfand die Gleitlegierung und das Kugellager dreihundert Jahre vor ihrer Zeit. Mit der ichnographischen Darstellung von Imola war er Vorläufer von Google Maps, mitsamt einem "Street View"-Karren, mit dem alle Straßen von Imola abgefahren und vermessen wurden. Außerdem hinterließ er mehr Aufzeichnungen als Steve Jobs, wie Walter Isaacson anmerkte, der über beide Genies dicke Biographien verfasste. Etwas mehr als 6000 Seiten sind noch vorhanden, auf denen Leonardo seine Beobachtungen mitteilte.

Zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci gibt es viele Einwürfe zu seiner Person. Sie reichen vom Versuch, die Leonardo-Bewunderung durch Steve Jobs, Sergey Brin und Bill Gates als Ausdruck des Allmächtigkeitsgefühls des Silicon Valley zu begreifen, bis zur leisen Kritik am Mann, der alles wissen wollte – ein Text, den Google News sehr hübsch als "Satire" einordnet. Daneben gibt es noch die üblichen Betrachtungen zum größten Maler aller Zeiten, der mit Bildern wie seiner Mona Lisa den Silberblick aufzeichnete. Erwähnenswert ist auch der Versuch, Leonardo zum Urahn der Robotik zu machen. Leonardo, Zeit seines Lebens ein begeisterter Erfinder von Theatereffekten aller Art, hatte 1515 anlässlich der Hochzeit seines letzten Schirmherren Franz I. von Frankreich einen Löwen konstruiert, der Lilien als Symbol des Hauses Valois aus seinem Brustkorb purzeln ließ.

Egon Friedell beschrieb das Dilemma des Rückblicks treffend in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit: "Er war Maler, Architekt und Bildhauer, Philosoph, Dichter und Komponist, Fechter, Springer und Athlet, Mathematiker, Physiker und Anatom, Kriegsingenieur, Instrumentenmacher und Festarrangeur, erfand Schleusen und Kräne, Mühlenwerke und Bohrmaschinen, Flugapparate und Unterseeboote; und alle diese Tätigkeiten hat er nicht etwa als geistreicher Dilettant ausgeübt, sondern mit einer Meisterschaft, als ob jede von ihnen sein einziger Lebensinhalt gewesen wäre." Beweise für diese Einschätzung gibt es nicht, denn die Zeit ist ein mieser Verräter: "Zudem hat das Schicksal, als ob es seine Züge absichtlich noch mehr hätte verwischen wollen, seine Hauptwerke entweder, wie das Standbild Francesco Sforzas und die Reiterschlacht, völlig zugrunde gehen lassen, oder, wie das Abendmahl, nur in sehr beschädigtem Zustand auf uns gebracht."

Leonardo da Vinci war vor allem ein extrem guter und neugieriger Beobachter von Naturphänomenen, der aus tiefer Überzeugung an die universale Einheit der Natur glaubte und aus Beobachtungen eines Phänomens hellwach nach Analogien in anderen Bereichen suchte, am liebsten im Studium von Wasser und Wellen oder Flüssigkeiten. Leonardo siedelte die Bedeutung des Wassers als Lebenselexier höher als die Luft an und er wurde Vegetarier, um keine Wesen verspeisen zu müssen, die Schmerz empfinden können. Auf seine Frage, warum der Himmel blau ist, fand er die richtige Antwort im Wasserdampf der Atmosphäre anlässlich einer Bergtour. Wenn man auf einem Berg immer und immer höher gehen könnte, wäre man irgendwann in totaler Finsternis.

Bei seinen Beobachtungen über den Vogelflug erkannte Leonardo beispielsweise, wie Vögel unter ihren Flügeln die Luft verdichten, während sie über den Flügeln dünner war, was Auftrieb erzeugte. "Um Kenntnisse über die Bewegung von Vögeln in der Luft zu erlangen, muss man zunächst einmal Kenntnisse über die Winde erlangen, die wir anhand der Bewegungen des Wassers überprüfen werden." Während seine Zeitgenossen über "Wunder" redeten, als Muscheln in Gesteinsformationen auf Bergen gefunden wurden, vermutete Leonardo trocken, dass es sich um sehr alte Meeresböden handeln musste, die irgendwann einmal hochgedrückt zu Bergen wurden. Zum angeblichen Wunder schrieb der Nerd gleich das komplette Forschungsprogramm hinzu: "Wir können an den Schalen von Muscheln und Schnecken die Jahre und Monate ihres Lebens ablesen, wie wir dies bei den Hörnern von Rindern und Schafen und den Zweigen von Bäumen tun." Die Ichnologie als angewandte Wissenschaft zu dieser Analogie von Leonardo entstand erst 300 Jahre später.

Eine andere Analogie entwickelte er aus der von ihm beobachteten Da-Vinci-Formel für das Wachstum der Bäume bei der Übertragung auf das Netz der Adern im menschlichen Körper, freilich ohne den Blutkreislauf zu entdecken. Leonardo, der rund 1000 Leichen sezierte, fand auf diese Weise bei einem "Hundertjährigen" die Atherosklerose und beschrieb sie exakt. Durch seine Beobachtungen von Wasserstrudeln konnte er das Herz, das er frühzeitig als simplen Muskel (und nicht etwa Heimstatt einer Seele) beschrieb, mit seinen Aorten-Ventilklappen richtig erklären, was im exakten Nachweis am lebenden Körper erst 2014 mit Hilfe eines MRT-Scanners gelang.

Während er sich als Maler an die religiösen Deutungsmuster halten musste, war Leonardo als rastloser Forscher selbst nicht sonderlich religiös. Gott kommt in seinen erhaltenen Notizen nicht häufig vor, religiöse Fragen gar nicht. Selbst bei den Beschreibungen von Sintfluten, mit denen er sich nach einem Schlaganfall intensiv in seinem letzten Lebensjahr beschäftigte, fasst er diese nicht als göttliche Strafen auf, sondern als gewaltige Naturkatastrophen, in denen die betroffenen Menschen allenfalls über den "Zorn der Götter" fluchen. Inmitten der Schilderung apokalyptischer Zustände bleibt Leonardo auch am Lebensende ein großer Beobachter: "Und wenn die großen Gewichte der Überreste von riesigen Bergen oder anderen hohen Gebäuden beim Einsturz die großen Wasserbecken treffen, dann wird eine große Wassermasse in die Luft springen, und deren Bewegung wird in entgegengesetzter Richtung zur Bewegung des Körpers verlaufen, der das Wasser getroffen hat. Das heißt, der Reflexionswinkel wird gleich dem Einfallswinkel sein." So kann nur ein Nerd den Weltuntergang erklären.

Das Leonardo da Vinci ein solcher war, zeigen seine von ihm unablässig angefertigten Notizen und Skizzen. Mindestens ein kleines Notizbuch trug er ständig am Gürtel, weitere größere Exemplare wurden täglich bereit gelegt, am Abend die Erkenntnisse zu beschreiben und zu verfestigen. Mitunter strich er ganze Passagen durch und zeichnete grimmige Grimassen von Kriegern, die er sehr verabscheute. Denn Vierteilungen, Halbierungen, Enthauptungen und Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen mit anzusehen gehörte auch zu den Pflichten eines Künstlers, der sich im Dienst solch reizender Zeitgenossen wie Ludovico Sforza befand, der prompt die Bronze einkassierte, die Leonardo für eine Reiterstatue verwenden wollte. Noch schlimmer wurde es bei seiner Dienstzeit für Cesare Borgia, in der Leonardo nicht nur, wie anfangs erwähnt, die Stadt Imola kartographierte, sondern auch seinen Fürsten in der Wahl der Waffen beriet. Mit seinen Notizbüchern wie dem Codex Arundel oder dem Codex Forster I beschrieb und zeichnete er eine heile Welt, durch die gelegentlich klingenschwingende Kriegsmaschinen fuhren.

Für 30,8 Millionen US-Dollar hat bekanntermaßen Bill Gates den Codex Leicester ersteigert. In großen Buchstaben steht in ihm "Il sole nó si move" (Die Sonne bewegt sich nicht) auf einer Seite des Notizbuches. Das war ein Satz, über den sich schon Sigmund Freud den Kopf zerbrach. Denn ansonsten enthält die um 1510 beschriebene Seite noch geometrische Skizzen und mathematische Berechnungen, dazu eine Querschnittszeichnung eines menschlichen Gehirns, eine Zeichnung des männlichen Harntraktes und karikierte grimmige Söldner-Visagen. War es eine Vorwegnahme der Forschungen von Galileo, Kepler und von Kopernikus, der sieben Jahre später die Erdrotation entdeckte? Leonardo schrieb von der Schwerkraft, die dafür sorgte, dass das Wasser auf dem Erdenrund blieb: "Die Erde mag sich auf welche Seite auch immer drehen, die Oberfläche der Gewässer wird nie aus ihrer Kugelform geraten, sondern wird immer auf gleicher Entfernung vom Mittelpunkt der Erdkugel bleiben." Für ihn befand sich die Erde "weder inmitten des Sonnenkreises noch inmitten des Weltalls", sondern nur inmitten aller Elemente, die zu ihr gehören. Sein letzter bekannter Eintrag vor seinem Tode war hingegen sehr prosaisch: "Die Suppe wird kalt."

Je nach Forscher sind zwischen 20 und 80 Prozent der Notizbuchblätter Leonardos verschwunden, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass weitere Codices auftauchen. Selbst bei der überschaubaren Zahl seiner Gemälde hat es in neuerer Zeit Entdeckungen gegeben, wie der Salvator Mundi, der im Jahre 2011 Leonardo zugeschrieben wurde, oder La Bella Principessa, die ihm 1998 zugeordnet wurde. Was auch nach 500 Jahren unverändert bleibt, ist sein Optimismus als Beobachter und als Nerd, "...ist seine ungebrochene Bereitschaft, immer neue Dinge zu finden, nach vorne zu schauen und dran zu glauben, dass der Mensch eigentlich zu allem nachzumachen oder zu machen in der Lage ist, wenn er nur das versteht." (tiw)