"Missing Link": "Kill it with fire!" – Vielfalt und Rücksicht, aber nicht für Wespen

Einerseits plädieren wir für Vielfalt und predigen Tierliebe, andererseits vernichten wir voller Tatendrang, alles was da kreucht und fleucht. Wenn wir das nicht ändern, stehen wir bald ziemlich einsam da – nur noch mit Hunden und Katzen.

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"Missing Link": "Kill it with fire!" – Vielfalt und Rücksicht, aber nicht für Wespen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die Gemeine Wespe ist ein Arschloch, weiß der ebenso gemeine Facebook-Leser. Sie sollte daher vernichtet werden, am besten mit Feuer, zusammen mit der gesamten Schwesternschaft ihrer fremdartigen Brut. Im selben Stream wenig weiter unten dann ein Aufruf zu "mehr Vielfalt wagen". Kaum jemandem fällt der Widerspruch auf. Er ist zu menschlich. Er lohnt gerade deshalb eine genauere Betrachtung.

Als ich noch ein Kind war, sah unser Auto nach einer Landstraßenfahrt aus, als hätte es ein riesiger Frosch ausgekotzt. Eine Kruste toter Insekten bedeckte den Lack und die Scheiben so dick, dass wir beim Tanken immer etwas davon entfernen mussten, um noch etwas zu sehen. Autofahrer wissen, dass selbst die modernste Scheibenwaschanlage arge Probleme hat, geplättete, getrocknete Insekten zu entfernen. Wenn ich heute 2000 Kilometer mit der steilen Frontscheibe eines Transporters durch die Republik fahre, finde ich dennoch nur einen Bruchteil der Insekten.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Auf dem Motorrad fällt auf, was viele Autofahrer auch feststellen: In manchen Tälern wimmelt es immer noch von bestimmten Insekten, die schon nach wenigen Kilometern das Visier zugepflastert haben. Es sind aber Ausnahmen. Das deckt sich mit den Erhebungen der Insektenforscher. Im Vergleich zu den Achtzigerjahren zählen sie insgesamt bis über 70 Prozent weniger Insekten in ihren Mengenfängen, finden aber ebenso Zonen, in denen es noch viele Tiere gibt. Auch die Verbindung von Tiermasse zu Geschwindigkeit zu Aerodynamik (daher mein Beispiel mit Transporterfenster) spielt eine Rolle beim beobachteten Besatz. Nicht-Autofahrer können ihre eigenen Kindheitsvergleiche mit Straßenlaternen oder beleuchteten Bettlaken ziehen, die nachts Falter anziehen.

Warum fiesele ich das überhaupt auf? Weil es sowieso im Forum passieren wird. Zumindest den ersten Schritt kann ich vorwegnehmen. Es gibt jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen in Deutschland deutlich weniger Insekten als früher. Das war kein Vulkan oder Gottes Zorn, sondern der Mensch drängt sie aus dem Leben, weil sie ihn stören. Als erstes trifft es immer die Spezialisten, nach und nach kommen aber alle dran. Bei Insekten interessiert das nur niemanden, weil man mit einem Ameisenlöwen eben kein Katzenvideo drehen kann. Der Frosch als Art wird von Hauskatzen unter Duldung ihrer Besitzer kaputtgespielt, weil er den Niedlichkeitsvergleich trotz Endoskelett verliert. Wir bemerken diese Entwicklung kaum, weil wir sie im Grunde des Herzens begrüßen. Insekten sind Dreck mit Beinen, und Frösche halten sich nicht an die Ruhezeiten ab 22:00 Uhr.

Wer etwas über den Charakter eines Menschen erfahren will, betrachtet am besten, wie er Schwächere behandelt. Tiere geben dabei ein beliebtes Beispiel. Wir denken dann meistens, wie gut wir zu den ganz wenigen auserwählten Tieren sind. Hund. Katze. Ganz vielleicht die Farbmaus der Tochter. Bei den Nutztieren hört die Liebe schon auf. Das heutige Leistungsrind, die Legehenne, das Mastschwein, das sind derart überzüchtete Empfindlichkeitsbrocken, dass ihren nur noch das Leben als genau definiertes Teilchen der hoch automatisierten Landwirtschaftsmaschine bleibt. Sie können gern versuchen, dieser Tage Hochleistungslegehennen einfach im Garten zu halten. Ich gebe ihnen zwei Wochen bis Lungenentzündung. Diese Tiere sind außerhalb klimatisierter Ställe kaum noch lebensfähig und darin führen sie eine Existenz, die kein Mensch "Leben" nennen würde, beträfe ihn das persönlich.

Beim Rest, der weder nutz- noch kuschelbar ist, rotten wir aus, was im Weg der Bequemlichkeit steht. Ich kann das in einigen Fällen sogar nachvollziehen, ich will hier gar nicht auf Seiten der penetranten Peta-Leute stehen, denen jedes Tier kategorisch wichtiger zu sein scheint als der Mensch. Meine eigene Art behandele ich dann doch bevorzugt. Krankheiten ausrotten: gut. Parasiten ausrotten: gut. Aber jetzt: die Wespe? Die Wespe ist ein Nützling, sie frisst zum Beispiel den Parasiten namens Stechmücke. An unserem Balkon in Richtung Wald leben jeden Sommer Wespen. Deshalb schaffen es selbst in feuchten Jahren im ganzen Jahr vielleicht zwei, drei Mücken bis ins Schlafzimmer. Aber eine Wespe kann stechen, also muss sie sterben, nicht nur als Einzeltier, sondern der Nestorganismus muss weg. Wenn ich als häufig gestochener Motorradfahrer für die Gattung Vespula sprechen kann, können andere Bewohner Balkoniens doch zumindest Duldung lernen. Leider nur selten. Traurig.

Der Wolf kommt langsam zurück in den Osten und wir wollen ihn gleich ein zweites Mal ausrotten. Nur seine optische Ähnlichkeit zum Haushund hilft ihm noch. Spinnen sind ekelig, weil sie "komisch laufen". Sofort töten. Fliegen, igitt, die haben auf Kackhaufen gesessen. Todesstrafe. Maulwürfe verschandeln mir den Rasen. Sie sollen nach drüben gehen oder sterben. Vögel zerfleddern meine Weintrauben. Man reiche mir die Schrotpistole. Die Ameise frisst mir 18 µg Marmelade weg. Ich vergifte ihre Kinder. Aber hey, ich bin Tierfreund, man betrachte nur meine drei fotogenen Katzen.

Das Verdrängungsverhalten des Menschen unterscheidet sich hier nicht großartig von vergleichbaren Säugetierarten. Wir bilden uns aber immer ein, eine höhere Ebene andenken zu können als, sagen wir: die Hyäne. Deshalb ein Plädoyer für die Wespe: Die größte Macht zeigt sich in der Gnade. Wir sprechen gerade großspurig über die "Vielfalt" und reduzieren ebendie mit Giftgas, wo sie über menschliche Variationen hinausgeht. Welche Vielfalt bleibt uns, wenn alles außer dem Menschen und seinen biologischen Bauteilzüchtungen ausgestorben ist?

Die Menschheit fühlt sich häufig allein im Universum. Sie erfindet Götter und Geschichten und horcht in die unvorstellbaren Weiten des Alls hinein, ob es da nicht doch noch Andere gibt. Meine größte Freude war dabei immer, dass wir schon hier auf der Erde nicht alleine sind. Wenn mehr fremdartiges Leben direkt an unseren Balkonen erhalten bleibt, hinterlassen wir den folgenden Generationen einen Schatz, der uns offenbar zu selbstverständlich geworden ist. (mho)