Missing Link: Luhmanns Denkmaschine endlich im Netz

Seite 2: Verweisungen und Schlagworte

Inhaltsverzeichnis

Per Zettelnummer markierte Querverweise brechen die sonst trotz aller Verzweigungen in eine Richtung laufende Struktur der Zettelfolgen auf. Sie stellen laut Schmidt et al. Verbindungen zwischen "thematisch und konzeptionell zusammenhängenden, aber verstreut in der Sammlung stehende Zetteln" her und bilden eine hypertextartige Verweisstruktur.

Verweisungen (2 Bilder)

Einzelverweise auf dem Zettel 17,1b2
(Bild: Niklas Luhmann-Archiv)

Schlagwortregisterkarte Rh - Ri

(Bild: Niklas Luhmann-Archiv, Universität Bielefeld)

Zu guter Letzt liefert ein rund 4000 Begriffe umfassendes Schlagwortregister Einstiegspunkte in das Zettelsystem. Anders als Schlagwortverzeichnisse in wissenschaftlichen Publikationen ist es nicht auf Vollständigkeit angelegt. "Vielmehr", so Schmidt et al., "notiert Luhmann in der Regel nur maximal drei Systemstellen, an denen der jeweilige Begriff zu finden ist, da er annimmt, dass man dann über das interne Verweisungsnetz schnell die anderen relevanten Stellen findet."

Die für die Datenmodellierung und technische Umsetzung verantwortlichen CCeH-Mitarbeiter Martina Gödel und Sebastian Zimmer beschrieben in einem Vortrag wesentliche Prinzipien, Technologien und Arbeitsschritte bei der digitalen Rekonstruktion des Zettelkastens.

Zunächst benannten sie einige allgemeine Anforderungen dieses zwischen Geisteswissenschaften und Informatik angesiedelten Projektes: "Wir wollen Forschungsfragen in durchführbare Analyseprozesse übersetzen, die einer maschinellen Bearbeitung gegenüber offen sind. Sowohl die Ausgangs- als auch die Ergebnisdaten sollen digital präsentiert und anschaulich gemacht werden. Wir müssen für eine dauerhafte Bereitstellung und Langzeitarchivierung sorgen. Wir wollen dabei auf offene Standards und freie Software setzen und streben eine Veröffentlichung der Daten und der Software unter möglichst freien Lizenzen an."

Am Anfang des konkreten Digitalisierungsprojektes steht die Erfassung der Zettel in der vorgefundenen Reihenfolge mit einem Durchzugsscanner in Batches zu je 50 Zetteln. "Den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Digitalisierungsprojekte folgend scannen wir in Vollfarbe mit 400 dpi und speichern unkomprimiert im tif-Format. Daraus erzeugen wir später die Derivate und Präsentationsdateien."

Die Dateinamen verschlüsseln bereits viele Informationen, etwa die Luhmannsche Zettelnummer, Batch und Batchnummer und aus welchem Zettelkasten und Auszug der jeweilige Zettel stammt. Schon bei der reinen Transkription, also beim Entziffern der Handschrift sind fachwissenschaftliche Kenntnisse gefragt. Das gilt etwa für das Verständnis der von Luhmann verwendeten Abkürzungen und Quellenangaben.

Über die reine Transkription hinaus müssen die vier oben genannten Strukturmerkmale, also die Verbindungen der Zettel untereinander expliziert werden. Für die Abbildung der Textinhalte, der Layoutinformationen und der Vernetzungen wurde das XML-Format gewählt. Das Format bietet diverse Vorteile, unter anderem ist es für Menschen wie für Maschinen lesbar und lässt sich gut erweitern. Gödel: "Damit können wir das Wissen über einen Text und seine Einbettung in einen Kontext gut dokumentieren. Layouthervorhebungen wie Unterstreichungen oder Rotmarkierungen und Textstrukturen können gut gekennzeichnet werden"

Für die Erstellung der XML-Dateien wurde der Editor oXygen gewählt. An die Spezifika und Bedürfnisse des Projektes angepasste Arbeitsoberflächen vereinfachen die Eingabe.

Jeweils eine XML-Datei repräsentiert also einen Zettel und ist eine freie, eigenständige Einheit. Diese Dateien sind die Basis für alle weiteren Auswertungen und Darstellungen. Neben XML verwendet das Projekt viele weitere, möglichst quelloffene Technologien: So setzt man beim Frontend etwa auf die JavaScript-Library React, beim Backend auf die XML-Datenbank BaseX und auf Node.js als Taskrunner.

Scannen und Einpflegen (7 Bilder)

Erfassung der Zettel per Einzugsscanner...
(Bild: Niklas Luhmann-Archiv, Universität Bielefeld)

Das nun freigeschaltete Portal bietet verschiedene Ansichten und Einstiege in die bereits digitalisierten Zettel, etwa eine Auszugsübersicht, eine Inhaltsübersicht des ersten Kastens und eine Suchfunktion.

Das Herz- und Glanzstück des Portals sind die Einzeldarstellungen der Zettel. Sie zeigen jeweils den Scan und die Transkription, die oft bereits anklickbare Verweise auf andere Zettel enthält. Eine Navigationsleiste zeigt Wege zu verbundenen Zetteln auf und lädt so zu ausgiebigen Exkursionen in Luhmanns Zettelkosmos ein.

Darstellung des Zettel 6.3 im Portal (5 Bilder)

Der gescannte Zettel 6,3 (Bild: Niklas Luhmann-Archiv)

Ganz links finden Sie dort Navigationspfeile, die – einmal ausgehend von der vorgefundenen Folge im Kasten und einmal anhängig von Luhmanns Nummerierungssystem – auf den jeweils vorherigen und nächsten Zettel verweisen. In seltenen Fällen verweist eine weitere Schaltfläche auf die Rückseite des Zettels.

Die Schaltflächen rechts daneben erlauben unter anderem die Navigation im aktuellen Strang und das Verfolgen von "eingeschobenen" und "ergänzenden" Strängen. Die Unterscheidung zwischen eingeschoben oder ergänzend ist das Ergebnis editorischer Anstrengungen, die das Problem der "Hierarchisierung einer nichthierarchischen Ordnung" zu lösen versucht. Dabei spielen neben der rein numerischen Ordnung auch inhaltlich-logische Zusammenhänge eine Rolle.

Johannes Schmidt beschreibt: "Wir strukturieren damit die Zettelfolgen und erleichtern das Lesen. Zettelkastengenetisch sind die eingeschobenen Zettel häufig später erstellt, bei denen die Kopplung zum davor stehenden Zettel im Allgemeinen ansetzt, nicht an einem spezifischen Punkt. Das unterscheidet diese Relationierung von den ergänzenden Strängen, die an einem ganz bestimmten Punkt auf dem Zettel abzweigen. Diese Verzweigungen sind häufig bereits bei der Erstellung des Ausgangszettels erfolgt."

Eine weitere Navigationsmöglichkeit bietet eine Visualisierung der inhaltlich-logischen Zettelfolge, die die unmittelbare Umgebung des aktuellen Zettels darstellt. Download-Links verweisen zudem auf die zugehörigen Bild-, XML- und JSON-Dateien.

Für die Zukunft sind weitere Visualisierungen der Zettelkastenstrukturen angedacht, etwa Branch-Views mit Zoom-Funktion und Circle Packing Grafiken zur Darstellung des Umfangs einzelner Abteilungen. Die von einzelnen Zetteln ausgehenden Verweise und Anschlüsse könnten durch Ego-Netzwerk-Grafiken verdeutlicht werden.

Studien zur Visualisierung (3 Bilder)

Im Portal noch nicht verfügbare Visualisierungen: Ein Branch View, beginnend mit Zettel 12,14...
(Bild: Cologne Center for eHumanities)

Zwar ist erst ein Bruchteil der Zettel vollständig in das Portal eingepflegt, die Verfolgung der so entscheidenden Zettelverweise führt sehr bald in noch unerschlossenes Gebiet. Auch sind einige der vorgesehenen Funktionalitäten noch nicht aktiviert. Trotzdem erscheint die digitale Rekonstruktion schon jetzt als gut durchdacht und gekonnt implementiert. Sie gibt bereits heute ein Beispiel für die gelungene Retrodigitalisierung eines strukturreichen Nachlasses. Die Veröffentlichung lädt einen weiteren Kreis von Nutzerinnen und Nutzern zum Test und zur Formulierung von Verbesserungsvorschlägen ein.

Analog zur Struktur des Zettelkastens baut Luhmanns Systemtheorie nicht auf Axiome und bietet keine Hierarchien von Begriffen oder Thesen. Zentrale Begriffe sind, ebenso wie die einzelnen Zettel, stark untereinander vernetzt und gewinnen erst im Kontext Bedeutung. Trotzdem benennt Luhmann als eine folgenreiche "theoriebautechnische Entscheidung": Soziale Systeme – von der Weltgesellschaft bis zum Friseurbesuch – bestehen nicht aus Menschen, Handlungen, Rollen oder gar physikalischen Objekten. Vielmehr ist Kommunikation "diejenige Operation, die ein soziales System ... produziert, reproduziert und damit ausdifferenziert."

Wir können mit Luhmann die Mediengeschichte als eine Ausweitung der Anschlussmöglichkeiten von Kommunikation beschreiben. Von der Schrift bis zum sozialen Netzwerk erleichtern Medientechniken zunehmend die Anknüpfung an Kommunikationen von räumlich oder zeitlich Abwesenden. Auch der digitalisierte Zettelkasten und die freie Bereitstellung fast aller Daten dürfte neue, faszinierende Anschlussmöglichkeiten an Luhmanns Kommunikationen eröffnen.