Technische Textilien: Funktion kommt vor Design

Sie schützen vor Feuer, unterstützen das Schwitzen und sind eine leichte Alternative für schweren Stahl in Beton: technische Textilien.

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Technische Textilien: Funktion kommt vor Design

Textilbewehrung in Beton ist nur ein Beispiel für Anwendungsfelder technischer Textilien.

(Bild: R. Thyroff, CC BY-SA 3.0 DE)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Ilg
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Wenn das Dach offen ist, macht Cabriofahren richtig Spaß. Dann genießen die Insassen den warmen Wind, der ihnen um die Nase weht. Bei geschlossenem Verdeck können Cabrios auch nerven, denn im Auto wird es mit zunehmender Geschwindigkeit lauter. Schwingungen des Verdecks erzeugen Luftdruckschwankungen, diesen Schall hören wir. Feder-Masse-System heißt dieses Phänomen aus der Physik. „Wir haben die Schallübertragung unterbrochen und dadurch ein Cabriodach entwickelt, unter dem Windgeräusche nur noch flüsternd wahrnehmbar sind“, sagt der Textilentwickler Dr. Jan Beringer.

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Das Prinzip dahinter kann man sich vorstellen wie ein Kugelstoßpendel, bei dem die letzte Kugel angehalten wird und dadurch das Pendel zur Ruhe kommt. „Die Luftdämpfung ist eine Beschichtung auf der Dachtextilie“, so Beringer. Entwickelt wurde das neuartige Cabrioverdeck für einen Automobilzulieferer, ein großer Automobilhersteller aus Süddeutschland verbaut es inzwischen in seinen offenen Fahrzeugen.

Behringer hat Textilchemie studiert und gegen Ende seiner Promotion bei Hohenstein als Forscher und -entwickler für technische Textilien angefangen. Als Funktionskleidung schützen sie Feuerwehrleute im Einsatz, Carbon ersetzt Stahl und macht Flugzeuge und Autos leicht, sie verstärken Schläuche, um hohen Druck stand zu halten. Technische Textilien sind High-Tech und Hohenstein eine internationale Größe in diesem Metier.

Das Familienunternehmen hat seinen Sitz auf Schloss Hohenstein in der Nähe von Ludwigsburg und dort etwa 650 Mitarbeiter, rund 1.000 sind es weltweit. 45 arbeiten am Stammsitz in der Forschung und entwickeln technische Textilien und textilnahe Produkte wie Deos. Die Forscher sind Textilingenieure, Biologen, Chemiker, Physiker und Mediziner. Hohenstein ist auf die Prüfung, Zertifizierung und Erforschung textiler Produkte aller Art spezialisiert. Das Unternehmen betreibt Auftrags- und öffentliche Forschung und begleitet seine Auftraggeber dabei, neue Produkte auf den Markt zu bringen.

Gleich 16 Textilforschungsinstitute gibt es in Deutschland. "Diese große Anzahl ist für ein Land einzigartig, sorgt für Spitzenentwicklungen und macht uns zum Weltmarktführer in Innovationen bei technischen Textilien“, sagt Michael Pöhlig, Hauptgeschäftsführer des Industriefachverbands Veredlung, Garne, Gewebe, technische Textilien. Der Fachverband ist Teil des Gesamtverbands Textil und Mode.

Etwa 30.000 Mitarbeiter hat die technische Textilindustrie Deutschlands in rund 350 Betrieben. Diese erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Umsatz von ca. 9 Milliarden Euro. "Das jährliche Umsatzwachstum der Branche beträgt laut einer Studie der EU-Kommission rund 5 Prozent per anno“, so Pöhlig. Die Exportquote liegt bei 52 Prozent, die Branchenstruktur ist mittelständisch geprägt. Es gibt wenig große Unternehmen, die meisten haben um die 100 Mitarbeiter.

Produktveredler, Textillaboranten, Maschinen- und Anlagenführer sind spezielle Ausbildungsberufe und in etwa zehn Fächern kann textiles Wissen studiert werden. "Aktuell findet ein Wandel in der Branche statt: die Unternehmen werden zunehmend Zulieferer für andere Industrien“, sagt Pöhlig. Der Fahrzeugbau, die Luftfahrt und das Gesundheitswesen sind wichtige Kunden. "Dadurch steigt die Abhängigkeit von anderen: geht es denen gut, geht es auch uns gut. Und umgekehrt“, so der Verbandschef. Er geht von einer weiter zunehmenden Bedeutung technischer Textilien aus.

Beringer berichtet von neuartiger Feuerwehrschutzkleidung, in der die Wärmeisolation sprunghaft ansteigt, wenn der Feuermann plötzlich im Feuer steht. Wie ein Airbag löst diese Funktion einmalig aus. Ein weiteres Beispiel neuartiger Textilien ist Sportkleidung mit erhöhter Verdunstungskühlung. "Das spezielle Textil verdampft Schweiß effektiv und stärkt so unsere körpereigene Klimaanlage, das Schwitzen“, sagt Beringer. Smarte Textilien, die auf Umwelteinflüsse reagieren, werden seiner Meinung nach künftig verstärkt auf den Markt kommen.

Die Firma Penn Textil Solutions aus Paderborn hat zwei neue technische Textilien entwickelt und wird sie demnächst auf den Markt bringen. Das eine ist eine stufenlose Beschattungstextilie. "Heute gibt es Markisen, die auf oder zu sind. Wir entwickeln und vertreiben Beschattungstextilien, deren Transparenz sich aufgrund ihrer Elastizität stufenlos variieren lässt“, sagt Betriebsleiter Franz Schütte. Werden die Fäden gespannt, lässt die Markise Licht durch, sind sie schlaff, ist die Textilie lichtundurchlässig.

Aus einer anderen Idee ist eine neuartige textile Betonbewehrung entstanden. Auch dafür werden elastische Fasern verwendet. "Betontextilien sind im Vergleich zu stahlbewährter Bauweise um ein Vielfaches leichter und bieten den Architekten neuen Gestaltungsspielraum“, sagt Schütte. Die Außenhaut der Allianz-Arena in München ist ein Beispiel für diese Art der Anwendung von Textilien in Beton. Penn Solutions hat nun in Zusammenarbeit mit dem Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen und dem Stanecker Betonfertigteilwerk die weltweit erste doppeltgekrümmte Textilbetonfassade entwickelt. Das ermöglicht die Drapierung von Beton in freien Formen ohne Faltenwurf.

Penn Textil Solutions ist mit seinen 140 Mitarbeitern ein typisches Unternehmen der Branche. Es stellt ausschließlich elastische Stoffbahnen auf Rollen her. Zwei Drittel seines Umsatzes macht die Firma mit Wäsche und Mieder. In enger Zusammenarbeit mit den Konfektionären werden elastische Stoffe für komfortable und effiziente Endprodukte für Mieder- und Wäschebekleidung produziert. Auch für Produkte in der Medizin, Sport und Technik finden die Stoffe Verwendung. "Unsere Textilien komprimieren bei jedem Einsatzzweck und geben Halt“, sagt Schütte.

Hergestellt werden die Textilien auf Rundstrick- und Wirkmaschinen. Beides sind maschenbildende Maschinen, die einzelne Fäden zu textilen Flächen verbinden. „Technische Textilien sind sehr speziell: auf eine individuelle Anforderung muss stets eine textile Lösung gefunden werden“, so der Betriebsleiter. Das mache die Arbeit mit diesem Material zwar äußerst anspruchsvoll, gleichzeitig aber ziemlich interessant. (axk)