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Was war. Was wird. Wenn die dicke Frau gesungen hat: die Jahreanfangsedition, pessimistisch und optimistisch gleichermaßen

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war, stellt Hal Faber betrübt fest und blickt unerschrocken in die Vergangenheit. Ja, früher. Ach was, so'n Quatsch. Jahresendstatistiken helfen, auch für etwas Optimismus. Die Zukunft kommt, versprochen.

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Was war. Was wird. Wenn die dicke Frau gesungen hat: die Jahreanfangsedition, pessimistisch und optimistisch gleichermaßen
Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Hal Faber

"Eine Grobheit besiegt jedes Argument und verdunkelt allen Geist. [...] Wahrheit, Kenntnis, Verstand, Geist, Witz müssen einpacken und sind aus dem Felde geschlagen von der göttlichen Grobheit. Dabei werden 'Leute von Ehre', sobald jemand eine Meinung äußert, die von der ihrigen abweicht, oder auch nur mehr Verstand zeigt, als sie ins Feld stellen können, sogleich Miene machen, jenes Kampfross zu besteigen; und wenn etwa, in einer Kontroverse, es ihnen an einem Gegen-Argument fehlt, so suchen sie nach einer Grobheit, als welche ja denselben Dienst leistet und leichter zu finden ist: Darauf gehn sie siegreich von dannen." (Arthur Schopenhauer, Parerga znd Paralipomena: Aphorismen zur Lebensweisheit)

*** Over, finito, aus und vorbei ist 2016, was für ein Jahr. Glenn Frey, David Bowie, Prince, Götz George, Manfred Krug, Leonard Cohen, Muhammed Ali, Bud Spencer, Papa Wemba, Ilse Aichinger, Natalie Cole, Fidel Castro, George Michael, Carrie Fisher und William Salice: Die Popkultur hat viele Stars hervorgebracht und dementsprechend gab es 2016 viele Tote. Das wird 2017 faktisch nicht anders sein, denn die Helden des Pops sind alle in die Jahre gekommen und siechen dahin wie die deutsche Sozialdemokratie. Jedes Jahr sterben viele berühmte Menschen, was soll's. Willkommen zur Jahresend-Ausgabe der kleinen Wochenschau, geschrieben vom hoch qualifizierten WWWW-Wahrheitsredakteur an seinem riesigen Postfak-Tisch auf seinem treuen Thinkpad, mit dem wunderbaren Gedit, Snapshot, Sonos, EMusic, Google Play Music, Last.fm – und Rotwein.

"Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wird nun dem ungeheuren Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat und mit sich selbst entsprechen? Werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen." (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einleitung)

*** Genug des Kolophons, her mit den Statistiken, den nackten Tatsachen ihr schepperndes Gerippe. Schaut man auf die Zahlen, so ist die wichtigste Meldung des Jahres vom Wahlsieg Donald Trumps mitnichten der Spitzenreiter von heise online, sondern erst auf Platz 15 zu finden. Mit 1918 Beiträgen der Forumsteilnehmer ist die Wahl im Sternzeichen des Hashtags #TheRealDonaldTrump jedoch eine der meistkommentierten Meldungen des Jahres 2016. Sieger über alles mit 1.296.645 Zugriffen und reger Begleitung durch das Forum (1505 Beiträge) ist diese Meldung vom Wüten des Krypto-Trojaners Locky. Rechnet man diese Ratschläge (Platz 5) und diesen Kommentar zu Windows und Locky (Platz 6) hinzu, könnte man von einem strahlenden Sieger sprechen, nicht gerechnet die Folgemeldungen zu Petya (Platz 9), Mischa, Goldeneye & Co, begleitet auch von klickreicher #heiseshow zum Thema. Die Bedeutung der Ransomware schlug sich denn auch in der politischen Debatte nieder, als Bundesinneminister de Maizìere eine schnelle Eingreiftruppe forderte und das Gerede von der Cyberwehr durch von Firmen abgestellte IT-Spezialisten die Runde machte. Wir. Dienen. Neuland. war abseits aller Ränge denn auch eine der beliebtesten Wochenschauen. Das Motto ist, wie man (im Bild nebenan) auf dem 33C3 sieht, auch bei den Hackern vom Chaos Computer Club angekommen, die sich allerdings vorab erst einmal für dienstunfähig erklärten. Die Kriegsdienstverweigerung alter Zeiten lässt schön grüßen.

"Gegen Leute, die ihre Definition von Ehe und Familie, von der Legitimität und Illegitimität verschiedener Lebensweisen allen anderen aufzwingen wollen und dabei Modelle in Anschlag bringen, die vielleicht in ihrer eigenen reaktionären Gedankenwelt funktionieren, in der Realität aber noch nie funktioniert haben, habe ich eine tiefe Abneigung. Sie ist wohl auch deshalb so stark, weil sie sich zu einer Zeit herausgebildet hat, als alternative Lebensformen dazu verdammt waren, in einem Bewusststein von Devianz ider Anormalität als etwas Minderwertiges, Peinliches und Beschämendes gelebt zu werden. Meine ebenso große Skepsis gegenüber den (im Grunde ebenfalls normativ argumentierenden) Apologeten der Anormalität, die uns die ständige Subversion und Nichtnormativität vorschreiben wollen, erklärt sich aus dem gleichen Grund." (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)

*** Mit 2299 Beiträgen ist der Locky-Kommentar zum Sicherheitsalptraum Windows übrigens ein ganz besonderer Spitzenreiter, was die Beteiligung der werten Leserschaft von heise online anbelangt. Überhaupt erfreuen sich die regelmäßigen Kommentare großer Beliebtheit, wie man an den Kommentaren Microsoft ist das neue Apple (Platz 11) oder zur überbewerteten Beratung im Einzelhandel (Platz 12), zum Gaming-Desaster namens Linux oder zum Internet of Shitty Things sehen kann. All diese Meinungsbilder schafften es unter die Top 30. Ein Wort noch zu den dem zweiten Platz, auf die es die gesammelten Meldungen über eine Großstörung bei der Deutschen Telekom brachten, komplett mit einer viel beachteten BSI-Warnung, einem wirklich perfekt getimten neuen Kongress der Telekom namens Magenta Security und netterweise schlecht programmierter Schadsoftware. Hier konnte nicht nur das neue Statistikformat replay zeigen, wie News auf heise online entstehen, hier zeigte sich auch die wunderbare Unwirksamkeit der "leistungsfähigen und nachhaltigen Cyber-Sicherheitsarchitektur", wie das die neu aufgelegte Cyber-Sicherheitsstrategie 2016 beschreibt. Wie bei der Aufstellung der Cyberwehr gibt es auch hier eine politische "Lösung" des Problems, nämlich eine weitere Einheit von IT-Spezialisten mit der Lizenz zum Gegenschlag und ein nigelnagelneues Gütesiegel für IT-Sicherheit, ein "Service", der an die aktuelle Debatte über vegane Currywürste erinnert.

"Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und auch anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist." (Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 2)

*** Apropos Namensgebung: Nicht weniger als 48 Namen von APT28 a.k.a. Fancy Bear, Sednit usw. listet die nunmehr veröffentlichte FBI-Analyse zu den russischen Hackern, deren Tun und Hacken nun dazu führte, dass noch-Präsident Obama 29 Russen aus den Vereingten Staaten von Amerika rauswarf. Wesentlich weniger Namen führt das insgesamt deutlich bessere NATO-Handbuch über den russischen Information Warfare an, das passenderweise zwischen den Jahren geleakt wurde. Der "russische Grizzly" ist das dritte IT-Großthema von 2016 mit vielen Einzelmeldungen gewesen, obwohl der Angriff dieser Truppe auf den deutschen Bundestag schon 2015 erfolgte. Eigentlich wird ein diplomatischer Rauswurf mit einem Gegenwurf geahndet, doch Putin blies das ab, weil er bekanntermaßen auf Trump setzt. Dafür wird er ausgerechnet von Hackern bewundert, die auf dem Hackerkongress in Hamburg selbst den Bärenerklärer Jessy Campos von der Firma Eset aufboten, der bei der Präsentation seines White Papers durchweg von Sednit sprach. "Der Bär hat viel Geld, er kann gut coden und versteckt auch noch Witze über Lionel Messi im Code, er hat also auch noch Spaß." Die berühmte "Attribution" der Coder zu einer Regierung sieht anders aus.

"Dass es anderswo anders zugeht, dass andere Leute andere Ziele und Möglichkeiten haben, weiß man sehr wohl, aber dieses Anderswo liegt in einem so unerreichbaren , separaten Universum, dass man sich weder ausgeschlossen noch benachteiligt fühlt, wenn einem der Zugang zu den Selbstverständlichkeiten der anderen verwehrt bleibt. So ist die Welt geordnet, Punkt. Warum weiß man nicht. Dazu müsste man sich selbst von außen betrachten, bräuchte einen Überblick über das eigene Leben und das Leben der anderen." (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)

*** Ach ja, Musik gabs natürlich auch im Jahr 2016, massenhaft sogar, und ich habe das Gefühl, ich übersehe auch massenhaft sagenhaft gute Musik, wenn ich mich an die herausragenden Alben des Jahres zu erinnern versuche. So sei die folgende Liste (die Reihenfolge ist ohne bestimmten Hintergedanken) gleich einmal als unvollständig deklariert, mag sie ergänzen, wer möchte (ich bin auf Hinweise im Forum gespannt...):

"Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht –, sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist." (Michel Foucault, Dispositive der Macht)

Was wird.

Was für eine himmlische neujährliche Ruhe! 2016 ist wirklich vorbei, die dicke Frau hat gesungen und Radfahrer sind ab sofort den Autofahrern gleichgestellt. Das Reformationsjahr hat noch nicht angefangen und Putins Leute stecken noch in den Vorbereitungen zur 100-Jahr-Feier der großen russischen Oktoberrevolution. Das Schönste ist ja, dass die Ruhe bis zum 20. Januar dauert, wenn das neue Jahr 2017 richtig anfängt und wir die erste Action von US-Präsident Trump zur Kenntnis nehmen dürfen. Erinnern wir uns darum an ein anderes historisches Datum vor 100 Jahren, an den 19. Januar 1917. Da schickte ein gewisser Artur Zimmermann eine verschlüsselte Nachricht an den deutschen Botschafter in Mexiko. Sie wurde von den Briten abgefangen und entschlüsselt, weil sie im Besitz der Codebücher waren. Bis heute gilt diese Entschlüsselung als größter anzunehmender Krypto-Unfall, denn die Tatsache, dass der Deutsche Kaiser den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen US-Schiffe befahl und den Mexikanern Texas, Neu-Mexico und Arizona überlassen wollte, führte zum Kriegseintritt der USA und den Aufstieg als Militärmacht. Mit allen Folgen für den ersten und dann auch den zweiten Weltkrieg.

"Politik ist wesentlich eine Angelegenheit mit Worten und um Worte. Deshalb muß der Kampf um die wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit fast immer mit einem Kampf gegen Worte beginnen. Im Hinblick auf die soziale Welt macht uns der Alltagsgebrauch der Alltagssprache zu Metaphysikern. Die Gewöhnung an das leere politische Gerede und die Verdinglichung der Kollektive, wie es gewisse Philosophen praktiziert haben, haben zur Folge, dass die Trugschlüsse und logischen Gewaltstreiche, die in den trivialsten alltagspraktischen Äußerungen enthalten sind, nicht mehr wahrgenommen werden." (Pierre Bourdieu, Rede und Antwort: Bezugspunkte)

Was wird uns 2017 begleiten? Da ist der NSA-Untersuchungsausschuss zu nennen, der sich darum kümmert, wie heute die Geheimdienste mit- und gegeneinander arbeiten, sich Informationen zustecken oder abluchsen, mit Mitarbeitern von deutscher Gründlichkeit und Fabulösität, wenn es ans Abhören der Netze geht. Der Aufdeckungsarbeit des Ausschusses verdanken wir Perlen deutscher Schreibtischtäterpoesie wie "Von einer Zulässigkeit [des Datenabgriffes] gehe ich aus, die Sinnhaftigkeit musste man der Arbeitsebene unterlassen", wie es Ansgar Heuser, Leiter der Abteilung "Technische Aufklärung" formulierte. Mit dem Ausschuss begleitet uns die Frage, wie wir es mit Edward Snowden halten, der Deutschland eine historische Rolle beim Projekt der Aufklärung zugesprochen hat. Wobei hier nicht nur die Aufklärung der NSA-Geschichte gemeint sein kann, sondern Aufklärung mit dem Mut, sich seines Verstandes zu bedienen in einer polarisierten Zeit.

"[...] droht jede Soziologie oder Philosophie, die den Standpunkt der 'Akteure' mit ihren 'Sinnattributionen' in den Mittelpunkt stellt, zur bloßen Mitschrift jener unreflektierten Beziehungen zu werden, die die sozialen Agenten zu ihren eigenen Praktiken und Wünschen unterhalten, zu einer simplen Fortschreibung der Welt, wie sie ist, zu einer Rechtfertigungsideologie der bestehenden Verhältnisse. [...] Der Zweck gesellschaftlicher Theorien besteht doch gerade darin, von den Handlungs- und Selbsteinschätzungslogiken der Akteure zu abstrahieren, um ihnen kollektive und individuelle Alternativen des Handelns und Wahrnehmens aufzuzeigen, damit sie ihre Rolle in der Welt nicht nur überdenken, sondern vielleicht aktiv umgestalten. Um eine neue Weltsicht zu eröffnen, muss man als Erstes die internalisierten Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster sowie die soziale Trägheit, die aus ihnen folgt, aufbrechen." (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)

Eines bleibt besonders bemerkenswert, was uns, so ist zu befürchten, 2017 noch weitaus öfters beschäftigen wird. Es hat sich ein falscher Zungenschlag eingeschlichen in die gesellschaftliche Debatte. Es nicht das reaktionäre Getöse der AfD, das rechtspopulistische und rechtsradikale Geschrei von Pegida und Konsorten, der Alltagsrassismus und -sexismus, der vermeintlich "normale" Diskussionen im Netz infiziert. Es ist die Reaktion der Liberalen und Linken darauf. Der US-Politikwissenschaflter Mark Lilla hat mit seiner Warnung vor dem "hysterischen Geschrei" der Liberalen, das erst Leute wie Trump möglich gemacht habe, die Richtung vorgegeben und auch gleich zusammengefasst. "The age of identity liberalism must be brought to an end." Da zeigte sich doch mancher gleich erleichtert: Ah, endlich Schluss mit der ewigen politischen Korrektheit; ein bisschen Rassismus, ein bisschen Sexismus, das geht schon in Ordnung – denn wenn man es zu weit treibt mit der liberalen Offenheit der Gesellschaft und der Gleichheit aller Menschen, dann stärkt das ja nur die Rechten.

"Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell 'originelle' Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu 'vergesellschaften' und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Dass eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine 'philosophische' Tatsache, die viel wichtiger und 'origineller' ist, als wenn ein philosophisches 'Genie' eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt." (Antonio Gramsci, Gefängnishefte)

Da schleichen sich plötzlich wieder seltsame Begriffe ein, die schon lange überwunden waren. Unscheinbare Änderungen in der Wortwahl schleichen mit, die nur demjenigen egal sind, der verkennt, welche Macht Begriffe haben. Alleine schon die Rede vom "Schutz der Minderheiten", die wieder en vogue ist, statt den eindeutigen "Rechten von Minderheiten". Schutz kann man entziehen (was nicht erst die Asyl-Debatte zeigte), Rechte, gar Menschenrechte sind unabdingbar und kein Teamsport, wie Snowden formulierte. Sie sind daher unbequem. Denn man muss sie in jeder Lebenslage und gegenüber jedem und für jeden achten und umsetzen. Da erscheint wohl einigen ein bisschen Rassismus, ein bisschen Sexismus doch einfacher. Es ist eine Schande, dass selbst manche Linke und Liberale die Bedrohung der offenen Gesellschaft mit weniger Offenheit bekämpfen wollen, die rechtspopulistischen Sprüche gegen angeblichen "Genderwahnsinn" und "Umvolkung" mit weniger Liberalität und weniger Diversität beantworten wollen. Und es sich dann auf ihrem breiten Arsch gemütlich machen: Wir haben das ja nicht gewollt, wir konnten nur nicht anders! Andere wiederum finden mittlerweile Anläufe für ein Wahrheitsministerium im Kampf gegen die angeblich so bedrohlichen Fake-News sympathisch. Dagegen muss man manche Querfront-Tendenzen in der Linken schon fast für ehrlich halten. Aber das scheint eine periodisch wiederkehrende Krankheit von Linken und Liberalen zu sein, der Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

"Wir alle unterliegen dem Einfluss der sozialen Ordnung. Diejenigen, die immer alles fein säuberlich 'geregelt' haben wollen und die überall um den 'Sinn' und den 'Halt' des Ganzen besorgt sind, können sich auf die Kraft der Normen verlassen, die sich in unser Bewusstsein einschreiben, weil wir sie zusammen mit den Regeln der sozialen Welt erlernen. Dass wir diesen Normen verhaftet bleiben, liegt auch an der Scham und Schande, die wir empfinden, wenn das Milieu, in dem wir uns bewegen, mit der rechtlich und politisch sanktionierten Ordnung nicht übereinstimmt." (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)

Feiern wir dagegen das Leben. Und die Freiheit. Verteidigen wir beides nicht nur, propagieren wir das freie Leben und die lebendige Freiheit. Es bleibt, mit einem Zitat zu schließen, das schon zum Jahresende 2015 bzw. Jahresanfang 2016 zu sagen war. Der Anfang ebenso wie das Ende gehören also dieses Mal einem urdeutschen Grantler.

"Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein: hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen. [...] Dem Nationalcharakter wird, ehe er von der Menge redet, nie viel gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Vielmehr erscheint nur die menschliche Beschränktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in jedem Lande in einer anderen Form und diese nennt man den Nationalcharakter. – Jede Nation spottet über die andere, und alle haben recht." (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: Aphorismenzur Lebensweisheit)

Früher war eben auch nicht alles besser, früher war nur alles früher. Wer sich zurücksehnt in die alten Zeiten, sei es das wilhelminische Reich mit bismarckscher Außenpolitik, seien es die 50er Jahre mit existenzialistischem Aufbruch und gleichzeitiger spießiger Dumpfheit, dem ist einfach nicht zu helfen. Alles. Wird. Gut. (jk)