Zahlen, bitte! 2+2 = 5 - von Wahrheit, Wissenschaft und Freiheit
Wer bestimmt, was die Wahrheit ist? "Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Wenn das gewährt ist, folgt alles weitere."
Vor 70 Jahren erschien am 8. Juni das letzte und wirkmächtigste Buch des Journalisten George Orwell. "Nineteen Eighty-Four", auf Deutsch "1984" benannt, ist eine Dystopie, die ein totalitäres Gesellschaftssystem schildert. In ihm bestimmt der Große Bruder. was richtig ist, auch im Zahlenraum. Der Chefinquisitor O'Brian bringt dies in einem Verhör so zum Ausdruck: "Manchmal, Winston, gilt zwei plus zwei gleich fünf. Manchmal drei. Manchmal alles auf einmal." Bevor sein Wille von O'Brian gebrochen wurde, war sich besagter Winston Smith im Kreuzverhör sicher: "Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Wenn das gewährt ist, folgt alles weitere."
2+2=5 ist keine Rechenaufgabe und kein mathematischer Trick, sondern eine Aussage, die in der Geschichte der Aufklärung eine wichtige Rolle spielte: Wer bestimmt, was die Wahrheit ist? Wer bestimmt, was offizielle Politik ist, wer hat die Macht über Fake News oder alternative Fakten? George Orwell ist dank "1984" mit seiner Definition der Freiheit ein Schulbuchbeispiel, doch haben auch andere Aufklärer diese Aussage vor ihm benutzt.
Vor Orwell war es der französische Priester Emmanuel Joseph Sieyès, der die Gleichung in der bis heute auflagenstärksten politischen Flugschrift "Was ist der dritte Stand?" bemühte. Sieyès kritisierte den Stimmenanteil des Adels in der ersten französischen Nationalversammlung: "Wenn die französische Verfassung behauptet, dass 200.000 Personen aus der Gesamtzahl von 26 Millionen Bürgern zwei Drittel des allgemeinen Willens ausmacht, dann ist nur ein Kommentar möglich: das ist eine Behauptung, dass zwei und zwei fünf ist."
Wissenschaften und Wahrheiten
Zurück zu Orwell und seiner Gedankenwelt. Bei ihm findet sich die beste Darstellung des Problems nicht einmal in der Dystopie 1984 sondern in seinem 1943 verfassten "Rückblick auf den spanischen Bürgerkrieg". In diesem Bürgerkrieg kämpfte Orwell auf republikanischer Seite als Mitglied der POUM, die von den moskautreuen Kommunisten besonders heftig bekämpft wurde. Darum machte sich Orwell in seinem Rückblick auf den Bürgerkrieg mehrfach über die "Kombination mehrerer faschistischer Systeme" Gedanken, die eines Tages die ganze Welt unter sich aufteilen und eigene Wahrheiten verkünden könnten.
"Besonders die Ideologie der Nazis stellt in Abrede, dass es so etwas wie 'die Wahrheit' gibt. Ebenso wenig gibt es so etwas wie 'Wissenschaft'. Es gibt eine 'deutsche Wissenschaft', eine 'jüdische Wissenschaft' etc. Am Ende steht eine gespenstische Welt, in der ein Führer oder sonst eine herrschende Clique nicht nur die Zukunft, sondern die Vergangenheit kontrolliert. Wenn der Führer in Bezug auf irgendein Ereignis bestimmt: 'Das hat es nie gegeben' -- gut, dann hat es das nie gegeben. Wenn er bestimmt, dass zwei und zwei gleich fünf sind -- gut, dann sind zwei und zwei gleich fünf. Diese Aussicht ist für mich erschreckender als Bomben -- und nach unseren Erfahrungen der letzten fünf Jahre ist das kein leichtfertig dahergedachter Satz.
Fakten und Popaganda
Zu den Erfahrungen von Orwell gehört auch seine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion als System, in dem ein Führer bestimmt, was die Wahrheit ist. Auch hier wurde propagiert und plakatiert, dass 2+2=5 ist: Der Zweijahresplan von Gosplan für die Jahre 1929 bis 1930 und der Zweijahresplan 1931 bis 32 ergeben zusammen mit der "Begeisterung der Werktätigen" fünf.
Nicht nur in der Wirtschaft, auch in der Wissenschaft kreierte man eigene Wahrheiten in einer "proletarischen Wissenschaft". Besonders folgenreich war die Ablehnung der "faschistischen" Genetik durch Trofim Denissowitsch Lyssenko, der mit dem Lyssenkoismus ganze Wissenschaftszweige ruinierte.
Heute ist der Umgang mit alternativen Fakten eine Spezialität der amtierenden US-Regierung Trump. Zu seiner Wahl und Trumps Behauptung, dass viele Menschen bei seiner Amtseinführung zugegen waren, schrieb die Zeit im Brustton tiefster Überzeugung: "Eine überprüfbare Wahrheit aber lässt sich nicht wegreden: Gerade mal 26 Prozent aller Wahlberechtigten haben für Trump gestimmt. Die anderen 74 Prozent müssen – werden? – dafür sorgen, dass die 'alternativen Fakten' nicht obsiegen und diese 230 Jahre alte Demokratie in ein Parallel-Universum treiben, wo zwei plus zwei tatsächlich fünf ist." (jk)