Zehntausende demonstrieren für "Freiheit statt Angst"
Ein bunter Zug in einer Mischung aus politischer Protestkundgebung und Freiheitsparade zog am Samstag durch Berlin und forderte das Aus für die Vorratsdatenspeicherung.
Berliner Demonstration gegen Vorratsdatenspeicherung (7 Bilder)
Bei strahlendem Sonnenschein demonstrierten am heutigen Samstag mehrere zehntausend Menschen für "Freiheit statt Angst" und gegen den "Überwachungswahn" in Staat sowie Wirtschaft. Die Veranstalter vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung sprechen mittlerweile von rund 100.000 Teilnehmern; die Polizei hatte zunächst mit 30.000 gerechnet.
Die bislang hierzulande wohl größte Protestkundgebung für den Datenschutz und gegen "Big Brother" gestaltete sich als buntes politisches Signal und Freiheitsparade mit Musikwägen. Bis zur Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor verlief die Veranstaltung friedlich. Die mit 900 Einsatzkräften präsente Polizei und Demonstranten hielten sich im Unterschied zur Großdemo mit rund 15.000 Teilnehmern vor einem Jahr beidseitig mit Provokationen zurück, auch wenn ein Sicherheitsbeamter deutlich sichtbar von Anfang an eine Videokamera auf die Menge hielt.
In seiner Eröffnungsrede malte Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ein "furchtbares Bild" gegenwärtiger staatlicher Überwachungsprojekte. Die geplante Ausweitung der Befugnisse des Bundeskriminalamts (BKA) nebst heimlicher Online-Durchsuchungen, die Anti-Terrordatei, die Fluggastdatenspeicherung und "andere Grausamkeiten" stünde neben der laufenden Aufhebung der Trennung von Geheimdiensten und Polizeien. Deswegen müssten die Bürger mit aller Kraft ihre Grundrechte und die Freiheit verteidigen.
Der Netzkünstler padeluun vom Datenschutzverein FoeBuD dankte als Mitorganisator der Deutschen Telekom "herzlich", weil sie mit ihren ständigen Skandalen zeige, "dass gehortete Daten niemals sicher sind und wahrscheinlich auch missbraucht werden". Deswegen müsse die verdachtsunabhängige Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten "sofort gestoppt" werden.
Medienaktivistin Anne Roth berichtete aus Erfahrung am eigenen Leibe, welches "riesige Ausmaß an Überwachung" der umstrittene Anti-Terrorparagraph 129a Strafgesetzbuch erlaube. Roth ist die Freundin des Berliner Soziologen Andrej Holm, der unter anderem wegen seiner Wortwahl in die Mühlen des staatlichen Fahndungsapparats rund um die "militante gruppe" (mg) geriet. Seitdem lebe das Paar "ständig mit der Schere im Kopf", selbst beim Aufruf von Internetseiten. "Mit dem Gespenst Terrorismus wird Angst gemacht", warnte die Journalistin. Darauf aufbauend wiederum würden immer neue "Sicherheitsgesetze" verabschiedet. Die Demo zeige jedoch, dass sich die Bürger "nicht alles gefallen lassen".
Martin Grauduszus, Präsident der Freien Ärzteschaft, kritisierte die elektronische Gesundheitskarte und die Vorratsspeicherung von Patientendaten "auf Großrechnern im Netz". Der Mensch werde zum "Datenkörper" und "gläsernen Konstrukt aus Bits und Bytes" degradiert. Er verkomme zur "Verfügungsmasse von Behörden, Versicherungen und der Gesundheitsindustrie". Zugleich werde mit der Protokollierung aller Nutzerspuren die "ärztliche Schweigepflicht sturmreif geschossen".
Mit zahlreichen Transparenten mit Aufschriften wie "Stasi 2.0" und "Privatsphäre ist so lebenswichtig wie Sauerstoff" sowie einer großen Datenkrake bewaffnet zogen die Demonstranten durch die Straße Unter den Linden, anschließend durch die östliche Innenstadt. Dabei skandierten sie Sprechgesänge wie "Stoppt den Überwachungsstaat", "Freiheit stirbt mit Sicherheit" oder "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Daten klaut". Abgesehen von einem schwarzen Block mit Kapuzenpullis und Sonnenbrillen marschierten unter anderem die Grünen sowie die Piratenpartei. Viele Besucher tanzten hinter den Wägen der "Hedonisten" und des Chaos Computer Clubs (CCC) mit einer "Bundestrojaner"-Pferdeattrappe, als handele es sich um die Love Parade.
Ricardo Cristof Remmert-Fontes aus der Demoleitung hatte die Polizei und alle Demonstranten zu Beginn trotz bösem politischen Spiel zu "guter Laune" aufgerufen und an die Auflagen etwa gegen das Mitführen von Teppichmessern oder Glasflaschen erinnert. Die anwesende Staatsmacht forderte er auf, das Videoaufnahmen auf das zulässige Maß in Ausnahmefällen bei konkreten Straftaten zu beschränken. Ausgeschlossen seien von der Kundgebung, die weltweit von Protestaktionen in 23 Städten begleitet wird, allein "Nazis, menschenverachtende Positionen und Gewalttätigkeiten".
Zur Demonstration "Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn" siehe auch:
Zu den Auseinandersetzungen um Überwachung und Datenschutz, um die Terrorismusbekämpfung, die erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die Online-Durchsuchung siehe auch:
(Stefan Krempl) / (hob)