Befreie dich vom Spotify-Algorithmus: So entdeckst du wieder neue Musik

Die personalisierten Wiedergabelisten von Spotify schränken den Musikgeschmack ein. So gelingt es, den Algorithmus auszutricksen.

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(Bild: norazaminayob/Shutterstock.com)

Lesezeit: 24 Min.
Von
  • Tifanny Ng
Inhaltsverzeichnis

Seit der Blütezeit des Radios, der Schallplatte, der Musikkassette und des MP3-Players haben sich Musikgenres wie Rock oder Hip-Hop zu hoch spezialisierten Formaten wie "synth space" oder gar "paranormal dark cabaret afternoon" entwickelt. Unendliches Streaming ist längst zum Standard geworden. Radio-DJs werden durch Künstliche Intelligenz ersetzt – und das Ritual, etwas Neues zu entdecken, ist in eine Spotify-Wiedergabeliste mit 30 Titeln verpackt, die wöchentlich aktualisiert wird. Die Grundregel beim Musikstreaming ist, wie in jeder anderen Internet-Branche heutzutage auch, die sogenannte Personalisierung.

Aber was wir an Bequemlichkeit gewonnen haben, haben wir an Neugierde verloren. Sicher, unser unbegrenzter Zugang ermöglicht es uns, schwedischen "Tropical House" oder "New Jersey Hardcore" zu hören, aber dieser Überfluss an Auswahl macht unser Hörerlebnis sogar weniger breit und eklektisch. Die meisten von uns greifen auf Musik über besagte Streaming-Dienste zu: mindestens über 600 Millionen von uns weltweit, um genau zu sein. Und Spotify beansprucht über 30,5 Prozent dieser Gruppe für sich, gut doppelt so viel wie jeder andere Streaming-Dienst auf dem Markt. Mit der bahnbrechenden Veröffentlichung von "Discover Weekly" im Jahr 2015 – einer generativen Wiedergabeliste, die die Songauswahl auf die Hörgewohnheiten der Nutzer zuschneidet – präsentierte Spotify die Personalisierung als Heilmittel gegen die Überfülle an musikalischen Optionen.

Doch durch die effiziente Bereitstellung dessen, was die Menschen – scheinbar – wollen, wurden die persönliche Auswahl und ein Stück der Menschlichkeit aus dem gesamten Musikkonsum- und Musikentdeckungserlebnis genommen. Einem von der Distribution Strategy Group veröffentlichten Bericht aus dem Jahr 2022 zufolge werden mindestens 30 Prozent der auf Spotify gestreamten Songs von KI-Systemen empfohlen, vermutlich sind es mehr. Der Erfolg von Discover Weekly hat die Plattform inzwischen zu stimmungsabhängigen Wiedergabelisten inspiriert, die sich im Laufe des Tages ändern, sowie zu "Audio Auras", die auf den Hörgewohnheiten der Nutzer basieren. Andere Streaming-Plattformen, wie Apple Music und Amazon Music, ziehen längst nach. Alle diese Ansätze zur Personalisierung haben jedoch einen gemeinsamen Fehler: Die Wiedergabelisten ähneln sich zu oft, gefüllt mit Liedern, die nur verschiedene Varianten desselben Sounds bieten.

Glenn McDonald, Ex-Ingenieur bei Spotify und der selbst ernannte "Datenalchemist", der maßgeblich für die Entwicklung der Enzyklopädie der Genres verantwortlich ist, die der Streamingdienst entwickelt hat, ist überzeugt, dass der Zugriff auf neue Musik zwar technisch einfach ist, viele von uns dies aber nicht wollen – vor allem, weil wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen zu suchen. Da wir uns an die Bequemlichkeit gewöhnt haben, eine generierte Wiedergabeliste durchzuhören, haben wir vergessen, dass das Entdecken von Musik eine aktive Aufgabe ist.

Für Spotify, so McDonald, beginnt die Personalisierung mit der Aufschlüsselung von Songs über eine Data-Intelligence-Plattform namens Echo Nest, die Spotify erworben hat. Durch eine Kombination aus Signalverarbeitung und menschlichem Zuhören durch Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler ordnet das Portal den Songs etwa zehn verschiedene Attribute zu (zum Beispiel Tonart, Tanzbarkeit), bevor sie in Bibliotheken gruppiert werden. KI-gestützte Programme greifen dann auf diese Bereiche zurück, um personalisierte Wiedergabelisten zu erstellen, deren Parameter auf die Gewohnheiten der einzelnen Nutzer zugeschnitten sind. Die Art und Weise, wie Spotify Musik kategorisiert, bestimmt, was für uns sichtbar wird. Es bestimmt auch, in welche Nischen Künstlerinnen und Künstler passen und wie viel Aufmerksamkeit sie erhalten.

McDonald zufolge sortiert das System unsere Hörgewohnheiten in drei konzentrische Cluster: die Dinge, die wir täglich hören, die Songs, die wie unsere Lieblinge klingen, und alles andere, auf das wir zufällig stoßen. Die automatisch erstellten Wiedergabelisten von Spotify halten sich meist an die erste Gruppe und wagen sich gelegentlich in die zweite. Der dritte Bereich ist zufällig. Der Dienst bietet also nie etwas völlig anderes an.

Spotify geht davon aus, dass wir, auch wenn wir sagen, dass wir etwas Neues hören wollen, immer wieder zu dem zurückkehren, was uns vertraut ist, erklärt McDonald. Er argumentiert, dass es in der Praxis oft zu einem unangenehmen Hörerlebnis führt, wenn man einen Reggae-Titel in eine Wiedergabeliste mit "Schlafzimmer-Pop" einfügt (ein Genre, das hauptsächlich verträumte Melodien und gedämpften Gesang enthält): "Wenn man dann etwas Neues hört, ist das seltsam, so wie es kein angenehmes touristisches Erlebnis wäre, jeweils drei Minuten lang an beliebige Orte auf der Welt teleportiert zu werden."

Um die 6.291 Mikrogenres in seiner Datenbank zu erstellen, so McDonald, verwendet Spotify soziale Daten – wie Hörerinnen und Hörer derselben Künstlerinnen und Künstler die Songs dieser Künstlerinnen und Künstler sortieren und wen sie sonst noch hören. Er stellt klar, dass die Genres von Spotify keine absoluten Grenzen haben, sondern einen losen und dynamischen Konsens darüber widerspiegeln, wie die Nutzerinnen und Nutzer Musik hören. Kleine Cluster von sich überschneidenden Hörgewohnheiten definieren diese losen Kategorien, während eine ständige gegenseitige "Befruchtung" Variationen davon schafft. "Jeder weiß, wo das Zentrum des Dorfes lag, und je weiter man hinausging, desto subjektiver wurde es", erinnert er sich bildlich an den Prozess. McDonald hat diese musikalische Landschaft sogar auf seiner persönlichen Website Everynoise.com kartiert. Unsere jeweiligen Hörgewohnheiten bilden zusammen genommen ein dynamisches Netzwerk, das zeigt, wie wir Musik kollektiv verstehen. Daraus zeigt sich: Es ist enorm schade, dass die derzeitige Nutzung von Spotify uns in isolierte algorithmische Blasen einzuschließen scheint.

Die Personalisierung hat das Navigieren durch die unendliche Fülle an Inhalten im Internet im Großen und Ganzen unglaublich bequem gemacht. Wir bekommen serviert, was wir mögen, wir bekommen gesagt, was wir kaufen sollen, wir werden aufgefordert, was wir sagen sollen. Es ist keine Überraschung, dass wir von unseren Musikstreaming-Apps dasselbe erwarten. Der Einsatz von Algorithmen zur Optimierung der Musiksuche setzt jedoch voraus, dass wir vorab explizit definieren, was wir wollen, und das Problem ist, dass das, was wir wollen, leicht durch das, was uns zwischendurch begegnet, beeinflusst werden kann. Einen Algorithmus zu bitten, unseren Horizont zu erweitern, ist wie ein Mittagessen mit einem Freund, der behauptet, für alles Neue offen zu sein – aber alles ablehnt, was Sie ihm vorschlagen. "Neugierde schaltet uns in einen aktiven Modus", sagt McDonald. Es liege an uns, aus unserer Blase herauszutreten.

Musikenthusiasten schaffen inzwischen neue Wege, um diese Neugierde wiederzubeleben – indem sie alles von konkurrierenden Empfehlungslisten (Music Leagues) bis hin zu interaktiven Musikkarten entwickeln. Bevor es das Streaming gab, war das Entdecken von Musik eine Arbeit, die mit einer echten emotionalen Belohnung verbunden war. "Damals auf der Universität habe ich mir alles angehört, was meine Freunde hörten", erinnert sich Zack O'Malley Greenburg, früher leitender Musikredakteur beim Magazin Forbes. Er beschreibt, wie er mit Freunden CDs tauschte und Stunden damit verbrachte, zu entscheiden, welche Lieder ihm gefielen und welche nicht. Später wurde die Beschaffung neuer Musik zu einer Übung im Sortieren von Audiodateien auf USB-Sticks und im (illegalen) Herunterladen von MP3s von fragwürdigen Websites. Das Teilen von Musik war eine sehr viel persönlichere Angelegenheit. Ein Mixtape für eine Gruppe zu erstellen, war ein echter Liebesdienst. Automatisierte Empfehlungssysteme haben diese soziale Kultur des Musikaustauschs ersetzt. Die anonymen Wiedergabelisten, für die wir uns heute entscheiden, können zwar umgearbeitet und dann selbst geteilt werden, aber der emotionale Einsatz ist viel geringer.

Da die persönliche Empfehlung von Songs unseren Geschmack offenbart, haben wir ein persönliches Interesse daran, was wir empfehlen. Aber der Algorithmus geht eben kein Risiko ein und bietet einfach das an, was mathematisch sinnvoll erscheint. "Was meiner Meinung nach beim Musikstreaming fehlt, ist die Antwort auf die Frage, warum jemand denkt, dass ich einen bestimmten Song mögen sollte", sagt Alex Keller, einer der Mitbegründer von Music League, einer Online-Plattform, die es Menschen ermöglicht, Songs für Wiedergabelisten einzureichen, die zu einem bestimmten Thema passen. Die Plattform hat ihre Nutzerzahl tatsächlich seit letztem Jahr verdoppelt und zählt nun rund 130.000 monatliche Nutzer.

Music League hat diese treue Gemeinschaft aufgebaut, indem es das Empfehlen von Musik zum Spiel macht. Nutzer können öffentlichen Ligen beitreten oder private Ligen mit Themen wie "Bester Rap-Song" oder "Horse Crime" erstellen. In jeder Liga gibt es mehrere Runden, in denen die Teilnehmer gegeneinander antreten, indem sie Songs einreichen und für sie abstimmen, die ihrer Meinung nach am besten zu einem Thema passen. Ein großer Teil der Erfahrung dabei, sagt Keller, ist die Unterhaltung der Nutzer rund um jede Einsendung. Er beschreibt, wie sich seine Haltung mit jedem Lied ändert, wenn die Nutzer ihre Auswahl verteidigen müssen.

Im Gegensatz zu den unzähligen personalisierten Spotify-Wiedergabelisten, die bei Bedarf sofort aktualisiert werden, können die Music-League-Ligen monatelang laufen. Es kann eine lange Zeitspanne zwischen der Aufforderung der Nutzerinnen und Nutzer und dem Einreichen eines Songs oder zwischen dem Anhören und dem Abstimmen liegen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden nicht nur ermutigt, sich die Lieder von Anfang bis Ende anzuhören (was in der Praxis immer seltener der Fall ist), sondern auch, den eingereichten Liedern Begleitkommentare beizufügen. Die Verlangsamung des Prozesses der Musikentdeckung kann aber ein zielgerichtetes Hören fördern. "Als Erwachsener ist Musik im Leben stets im Hintergrund", sagt Keller. Für ihn rückt der soziale Fokus von Music League die Musik wieder nach vorne. Der kollaborative Empfehlungsprozess verleiht jedem Song emotionales Gewicht und bietet erfrischende Abwechslung zu den zahlreichen generierten Wiedergabelisten, die wir zur Untermalung abspielen.

Ähnlich wie Music League arbeitet eine private Facebook-Community namens Oddly Specific Playlists. Es ist eine Gruppe, die Nutzerinnen und Nutzer aus allen Ecken des Netzes mit Wiedergabelisten zusammenbringt, die von (wie der Name schon sagt) sehr spezifischen Dingen inspiriert sind. Mit über 364.000 Mitgliedern wird die Gruppe täglich mit Anfragen überflutet; die Nutzer posten inspirierende Songs und fügen eine kurze Erklärung zu ihrem Interesse an dem Thema hinzu. Andere teilen relevante Songs und bieten persönliche Anekdoten, um ihre Empfehlungen zu untermauern.

Oft trauen sich die Playlist-Anfragen auch an düstere Themen wie Herzschmerz und Trauer heran. Indem die Nutzerinnen und Nutzer sehr intime Geschichten über ihre Beziehungen zu bestimmten Liedern erzählen, entwickeln sich Gespräche – und die Gemeinschaft heilt zusammen. Die Tatsache, dass sich die Mitglieder wahrscheinlich noch nie getroffen haben, kann diese Erfahrung noch bedeutungsvoller machen. Das Verbindende mit Fremden auf der ganzen Welt offenbart die Universalität selbst scheinbar spezifischster Erfahrungen und bietet eine einzigartige Form der persönlichen Validierung. Die Diskussionen darum können auch alten Songs ein neues Leben einhauchen; eine Anfrage nach Liedern, in denen der Laut "oh" vorkommt, von einem Mitglied, dessen zweijähriges Kind vom Buchstaben O besessen war, führt dann zu "Oh! Darling" von den Beatles.

Der Fokus auf die Förderung organischer menschlicher Interaktionen ist nicht neu. Bis 2017 verfügte sogar Spotify selbst über eine Chat-Funktion, die jedoch nicht häufig genug genutzt wurde (und nicht genügend abgerufene Streams generierte), um die für ihre Pflege erforderlichen Ressourcen zu rechtfertigen. Stattdessen konzentrierte sich das Unternehmen auf die Optimierung der Personalisierung. Während sich die Spotify-Plattform weiterentwickelt hat, um die Musikauswahl so einfach wie möglich zu gestalten, ist das ungeschliffene Format wie das der Oddly Specific Playlists weitgehend gleich geblieben. Die Kommentare sind immer noch schwer zu überblicken, und die Nutzer müssen sich durch Berge von Beiträgen wühlen, um relevante Empfehlungen zu finden.

Trotz der nicht ganz einfachen Bedienung hat sich die Oddly-Specific-Playlists-Community seit 2019 gut entwickelt. "Wenn ein soziales Netzwerk etwas taugen soll, dann muss es Menschen geben, die neue Inhalte in das Ökosystem einbringen und sie auf kohärente Weise organisieren – wie jemand, der eine handverlesene Playlist erstellt", sagt Kyle Chayka, Mitarbeiter des New Yorker und Autor des Buches Filterworld: How Algorithms Flatten Culture. Genau das tun die Mitglieder von Oddly Specific Playlists, auch wenn die Ergebnisse mitunter nicht leicht zu überblicken sind.

Für den deutschsprachigen Raum sei an dieser Stelle der Newsletter-Service "Ein Song reicht" erwähnt: Abonnentinnen und Abonnenten des kostenfreien Dienstes erhalten täglich eine Mail mit der persönlichen Empfehlung einer Person aus der Musik- und Kulturbranche. Diese Person schreibt ein paar Worte zu sich selbst, aber vor allem zu dem einen (!) empfohlenen Song, dessen Interpret:in in Deutschland lebt. Folglich soll damit Künstler hierzulande genreübergreifend Aufmerksamkeit geschenkt werden. Um den Song anzuhören, sind Links zu verschiedenen Musikstreaming-Diensten (ja, auch Spotify) in der Mail aufgelistet.

In seinem Buch erzählt Chayka von den vielen Stunden, die er selbst mit dem Surfen in Musikforen wie AntsMarching.org und UFCK.org verbracht hat (Fan-Seiten, die sich allem widmen, was mit der Dave Matthews Band beziehungsweise Pearl Jam zu tun hat), um sich mit anderen Usern auszutauschen, die Low-Fidelity-Tapes von alten Konzerten und lustige Fakten über die Entstehung einer Band teilten. Für Chayka bieten diese kulturellen Kaninchenlöcher eine Form des "gegenseitigen Lernens", die uns hilft, das, was wir konsumieren, besser zu verstehen. Wenn wir zum Beispiel wissen, wie der Stil eines Künstlers sich entwickelt hat, sind wir eher in der Lage, unseren Geschmack absichtlich zu beeinflussen.

In Filterworld skizziert Chayka auch, wie Algorithmen an die Stelle von Zeitschriftenredakteuren und Museumskuratorinnen als Wächter der Kultur getreten sind. "Ich glaube, dass Kuratieren eine Möglichkeit ist, sich der Verflachung des Internets zu widersetzen", sagt er. Gleichzeitig räumt er ein, dass der Begriff selbst in den vergangenen zehn Jahren verwässert wurde. Chayka bezeichnet das Kuratieren als eine absichtsvolle, mühsame und endliche Tätigkeit – Eigenschaften, die er als Gegensatz zu unserer Beziehung zu Algorithmen betrachtet. Wo ein/e Kurator:in Perspektiven weitergibt, die Diskurs und Unbehagen willkommen heißen, werden Algorithmen aus Angst entwickelt, anzuecken oder Nutzer gar zu beleidigen. "Wenn ein Mensch ein Kunstwerk interpretiert, fügt er einen Wert hinzu und nimmt ihn nicht weg. Ein Algorithmus hat nicht die Fähigkeit, zu interpretieren."

Bevor es Streaming gab, hat ein Magazinprofil über einen aufstrebenden Künstler oder eine Bloggerkolumne mit dem Titel "Songs I’m listening to" Konsumenten auf den Plan gerufen, die sich dazu inspiriert fühlten, sich intensiv mit einer Diskografie auseinanderzusetzen. Musikzeitschriften wie Blender, NME und The Source hatten ebenfalls großen Einfluss. Sie entdeckten große Künstler wie The Notorious B.I.G. und generierten mit eigenen Kolumnen Hype für Musiker ohne Plattenvertrag. Aber, wie Greenburg erklärt, "Streaming-Dienste entfernen diesen Schritt". Anstatt den Geschmack der Nutzer herauszufordern, bieten die Algorithmen nur eine abgewandelte Version dessen, was sie bereits mögen. Wie die Soylent-Shakes, die Mitte der 2010er Jahre beliebt waren, weil sie angeblich alle Nährstoffe bieten, die man aus einer Mahlzeit braucht, können diese persönlichen Wiedergabelisten zwar unseren Magen stopfen, aber niemals wirklich sättigen.

In Filterworld nennt Chayka unabhängige Hörfunk-DJs als Gegenmittel gegen die algorithmische Übernahme der Musikbranche. Der physische Akt des Einschaltens eines Radiosenders – ähnlich wie das Betreten einer Konzerthalle – gibt unserer Erfahrung von Musik eine Art taktile Qualität zurück. Wenn hinter der Auswahl der Lieder eine Stimme steht, hören wir eher zu, betont Chayka. Er beschreibt, wie solche DJs "ihr gesamtes Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung einsetzen, um zu entscheiden, was sie uns präsentieren und wie sie es tun". Die in Hongkong lebende Musikerin Cehryl, die die Sendung Mystery Train auf Eaton Radio moderiert, strukturiert ihre Sendungen um Erzählungen herum. "Ich denke über meine Sendungen auf dieselbe Art nach wie über eine Performance", sagt sie. "Es gibt immer einen emotionalen Bogen." Sie stellt ihren Geschmack in den Vordergrund und hofft, damit einen einzigartigen Standpunkt zu vertreten, der ihren Zuhörern etwas Neues bietet.

In einer Welt der On-Demand-Musik erfordern Echtzeitformate des unabhängigen Radios eine bestimmte Abfolge des ununterbrochenen Hörens. Ohne Überspringen, Shuffle-Funktion oder die Möglichkeit, Pausen zu machen, gibt es den Kuratoren die Möglichkeit, die musikalischen Grenzen ihrer Zuhörer zu erweitern. Für Cehryl besteht ein großer Teil des heutigen Musikerdaseins darin, sich mit der existenziellen Frage auseinanderzusetzen, ob man Musik für den Algorithmus machen soll.

"Die Leute wollen die Hook schon nach 15 Sekunden"Seit der Popularisierung des Streamings (und dem Aufstieg von TikTok) ist die durchschnittliche Länge eines Songs von vier Minuten auf etwa drei Minuten geschrumpft. Künstler werden ermutigt, Singles oder EPs herauszubringen, anstatt ganze Alben zu veröffentlichen. Menschen mit jahrzehntelanger Musikerfahrung hassen das. Im Jahr 2023 führte Spotify außerdem eine Vorschaufunktion ein, eine TikTok-ähnliche, unendlich scrollende Musikübersicht, die bei jedem Wischen die "besten" Sekunden eines jeden Songs abspielt. Der Algorithmus belohnt "Relevanz" und Instant Gratification. "Keine langen Lieder. Keine langatmigen Songs, für die man Geduld braucht. Die Leute wollen die Hook schon nach 15 Sekunden, wenn nicht früher", sagt Cehryl.

Cehryl erlebt dabei das, was Chayka Angst vor dem Algorithmus nennt, und beschreibt das Bedürfnis, die Wahrnehmung zu verändern: "Ich bin oft als Schlafzimmer-Pop gelistet worden. Aber ich glaube nicht, dass ich Schlafzimmer-Pop mache." Für Künstler spielen die Genreeinteilungen von Spotify längst eine komplizierte Rolle in ihrem kreativen Prozess. Der Algorithmus von Spotify bietet lose Kategorisierungen, um aufkommende Genres zu identifizieren oder bekannte umzugestalten, aber die Förderung breiterer, bekannterer Genres durch die Plattform führt dazu, dass sich einige Künstler in eine Schublade gesteckt fühlen und andere unter Druck gesetzt werden, sich anzupassen. Die Einordnung in die Spotify-Kategorien erhöht die Chancen eines Künstlers, auf der Plattform viral zu gehen, selbst wenn jeder Stream nur 0,003 Dollar für den Urheber einbringt.

Alex Antenna, der eine Website mit dem Namen Unchartify eingerichtet hat, um eine manuelle Navigation durch die Spotify-Datenbank zu ermöglichen, führt diese Schubladen auf Spotifys Streben nach Personalisierung zurück. Er hat seine Website so aufgebaut, dass sie die Vielzahl der für die Nutzer erstellten Wiedergabelisten umgeht und weniger bekannte Ecken der Spotify-Datenbank hervorhebt. "Die Musikdatenbank von Spotify verfügt über eine Vielzahl von Parametern, Markierungen und Kategorien, mit denen sich Musik sehr detailliert klassifizieren lässt. Das wird in der offiziellen App einfach nicht sichtbar", sagt er. Er ist überzeugt, dass Spotify trotz der ausgefeilten Sortierung von Musik absichtlich stark vereinfacht: Die Bibliothek bietet hauptsächlich personalisierte Wiedergabelisten, die sich auf breite Kategorien wie "Metal" oder "Party" stützen, von denen viele hauptsächlich "populäre Künstler oder Songs, die man schon 1.000 Mal gehört hat" enthalten.

Antenna weist darauf hin, dass Spotify neben Genres wie "Schlafzimmer-Pop" oder "Indie Folk" eine Fülle von Mikrogenres (wie "Reminimal" oder "Sky Room") anbietet, die über eine Programmierschnittstelle nur dem Namen nach zugänglich sind. Er hofft, dass ein granulares System wie Unchartify die Angst vor dem Algorithmus bekämpfen kann, indem es Genres aufzeigt, die den Sound eines Künstlers genauer repräsentieren. Unchartify reorganisiert also die Spotify-Datenbank, indem es alle Genres in alphabetischer Reihenfolge sortiert – etwas Unerhörtes in der heutigen Welt der Engagement-Optimierung. Sie werden so zugeordnet, dass jedes Album eine Art Knotenpunkt ist, der mit einer Liste ähnlicher Alben verbunden wird. Im Gegensatz zu Spotifys "Fans mögen auch"-Funktion, die ähnliche Künstler empfiehlt, ohne zu sagen, wo die Ähnlichkeit liegt, bietet Unchartify ein genaues Bild davon, wo ein Album musikalisch im Verhältnis zu anderen steht.

Wenn Nutzer nicht ausdrücklich danach fragen, versucht Unchartify auch nicht zu erraten, wonach man sucht. Stattdessen gibt es die Möglichkeit, die Spotify-Datenbank systematisch zu durchstöbern, so wie man in einer öffentlichen Bibliothek die Archive durchforsten würde. Die Positionierung von Antenna offenbart einen wichtigen Spannungspunkt in der Welt der On-Demand-Musik: Um die Fülle der Online-Inhalte verdaulich zu machen, ist eine Vereinfachung erforderlich, aber bei der Vereinfachung wird oft auf Nuancen verzichtet. Einen Schritt weiter als Antennas archaische Entscheidung, die Genres alphabetisch aufzulisten, geht Radiooooo, eine laut Eigenbezeichnung musikalische Zeitmaschine, die den Entdeckungsprozess zufällig gestaltet, indem sie Genres vollständig eliminiert.

Radiooooo wurde 2012 von einer Gruppe von vier DJs gegründet und kuratiert eine Auswahl von Songs für jedes Jahrzehnt seit den 1900er Jahren für jedes Land auf der ganzen Welt. Die Benutzer werden aufgefordert, Musik nach Zeiträumen und geografischen Standorten statt nach Genres oder Künstler auszuwählen – was jeden Anschein unserer aktuellen Streaming-Erfahrung zunichte macht und zu einer neuen Denkweise über Musik inspiriert. Radiooooo setzt auch auf eine soziale Komponente, indem es Mitglieder, die den Titel entdeckt haben, würdigt und sich Gemeinschaften wie Music League und Oddly Specific Playlists anschließt, um eine Form von Crowdsourcing-Empfehlungen zu fördern, die zu Gesprächen und Meinungsverschiedenheiten einladen – weit entfernt von Spotifys Vision eines optimierten, ungehinderten Hörens.

Vielleicht ist der einzige Weg, unseren algorithmischen Blasen zu entkommen, der Aufbau einer Gemeinschaft. Wenn wir unterschiedliche Muster des Musikkonsums begrüßen, sind wir gefordert, Musik aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, so wie unabhängige Radiosender kuratieren, um eine Geschichte zu erzählen, anstatt eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen. In einer Gemeinschaft gibt es nichts zu optimieren und im Gegenzug nichts zu stark zu vereinfachen.

Obwohl dies der Philosophie von Spotify zuwiderläuft, ergänzen Plattformen wie Radiooooo, Music League, Oddly Specific Playlists und das unabhängige Radio die Nutzung solcher Plattformen. Sie dienen als Sprungbrett für unseren Entdeckungsprozess und helfen uns, über das Beharren von Spotify auf Personalisierung hinauszugehen, indem sie uns zeigen, wo wir suchen müssen, und, was am wichtigsten ist, indem sie dafür sorgen, dass es Spaß macht.

McDonald vergleicht die Funktionen von Spotify mit Google Maps. "Google Maps übernimmt nicht die Erkundung für mich, aber es ist hilfreich, wenn ich irgendwohin fahre", sagt er. Anstatt uns auf geführte Touren mitzunehmen, bietet es uns die Werkzeuge, um uns an einen neuen Ort zu navigieren. Spotify zeigt uns nicht nur, was in der Nähe ist und wie man dorthin gelangt, und markiert Sehenswürdigkeiten, die andere besucht haben, sondern bietet uns auch Zugang zu den meisten Musikstücken, listet globale Hörtrends auf und stellt uns Künstler vor, die denen ähneln, die wir bereits kennen. Aber es sind die Communitys, die uns helfen, ein Ziel zu finden, das wir mit Spotify erkunden können.

Dieser Beitrag ist zuerst bei t3n.de erschienen.

(mack)