c't Fotografie extra 8/2020
S. 158
Ostsee-Krimi
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OSTSEE-KRIMI

„Hört auf, nach Öl zu bohren! Wollt ihr noch mehr tote Kinder?“

Ein grausiger Fund lässt den Ex-Zeitungsredakteur Tom Brauer zum Privatdetektiv werden: Auf ein Zeesboot gebettet, treibt Leo, der zehnjährige Sohn des Bauunternehmers Günter Rakowsky, tot auf dem Barther Bodden. Die Entdeckung der Leiche fällt ausgerechnet in die Zeit des offiziellen Ölförderbeginns vor den Toren der kleinen Boddenstadt Barth. Ein Zufall? Tom gerät in den Sog von widerstreitenden Interessen, Komplizenschaften und der kriminellen Vergangenheit von Leos Vater. Und was hat das mysteriöse Amulett zu bedeuten, das neben Leo im Boot gefunden wurde?

Ostermontag: Das Boot

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Im milchigen Licht des frühen Morgens erschien die Hafenbefestigung wie eine Grenze, hinter der ein mystisches Land liegen musste. Der Geruch nach brackigem Wasser, versetzt mit einem diffusen Fischaroma, hing in der nebelfeuchten Luft. Ein leises Gluckern und der Schrei einer Möwe durchkreuzten die Stille.

Die beschauliche Morgenstimmung entschädigte Tom für die Zumutung des frühen Aufstehens. Er betrat vorsichtig den Schwimmsteg im Barther Stadthafen, der vom Tau noch feucht und deshalb glitschig war. Am Ende des Stegs lag die Mathilda, eine ausgemusterte kleine Hafenbarkasse, die Tom vor einigen Jahren vor dem Abwracken gerettet hatte. Der Kauf, vor allem aber die Reparaturen, hatten damals seine gesamten Ersparnisse verschlungen; aber er hatte es nie bereut, das Boot mit dem rundlichen Rumpf erworben zu haben. Als er die beschlagenen Fenster der Deckskajüte sah, wurde ihm klar, dass er um diese Uhrzeit noch nie am Barther Hafen gewesen war. Und das, obwohl er seit fünfzehn Jahren in einem winzigen Stadthaus in der Gartenstraße wohnte, kaum mehr als einen Steinwurf vom Hafen entfernt. Er sah hinüber zum Hotel Speicher und bemerkte ganz oben im sechsten Stock einen Mann, der gerade von seiner Suite aus die Dachterrasse betrat. Die Terrasse krönte einen spitz zulaufenden Vorbau, der an einen Schiffsbug erinnerte. Ein findiger Architekt hatte ihn vor den ehemaligen Getreidespeicher gesetzt, sodass dieser nun wie ein gewaltiger Frachter aus Backstein wirkte, der im Aufbruch begriffen war.

Als Tom nach Barth gezogen war, hatten sie den Umbau des Getreidespeichers zu einem Vier-Sterne-Hotel gerade erst abgeschlossen. Damals, wenige Jahre nach der Wende, schien noch vieles möglich in der Stadt am Bodden. Später war der Bauboom ins Stocken geraten, abgesehen von dem einen oder anderen Einkaufszentrum, mit dem sie die Außenbezirke endgültig verschandelten. Immerhin war der Mann auf der Terrasse der lebende Beweis dafür, dass die 250 Euro teure Suite des Hotels Speicher tatsächlich gebucht wurde. Aus purer Neugier nahm Tom das Fernglas von der Ablage am Steuerstand und richtete es auf den Frühaufsteher auf der Dachterrasse des Hotels. Er trug sein nahezu weißes Haar zu einer Mähne zurückgekämmt und war in einen cremefarbenen Bademantel gehüllt. In der Hand hielt er einen Becher. Tom hätte gerne mal von dort oben zugesehen, wie die Sonne über der Grabow aufgeht, dem östlichen Teil der Boddenkette. Es musste eine herrliche Aussicht sein. Der Mann im Bademantel schien ihr aber nicht allzu viel abgewinnen zu können. Verächtlich kippte er den Inhalt seines Bechers über die Brüstung in die Tiefe und ging wieder ins Innere der Suite.

Tom schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Er hatte Clara versprochen ihr drüben in Zingst beim Aufbau des Verkaufsstandes zu helfen. Sie wollte pünktlich um neun alles fertig haben. Der Gedanke an Clara brachte eine neue Farbe in den Tag, eine Ahnung von Morgenröte. Seit zwei Jahren kannten sie sich, und nach wie vor spürte er eine warme Welle, die durch seinen Bauch rollte, wenn er daran dachte, wie sie ihn empfangen würde: mit einem neugierigen, vielsagenden Lächeln, vielleicht mit einer spöttischen Bemerkung über seine Studienratstasche aus hellem Leder, seine schwarz geränderte Existenzialistenbrille oder den Dieselgeruch, der nach jeder Überfahrt in seinem abgetragenen Parka hing.

Es war ihm unangenehm mit dem Anlassen des Motors die Morgenstimmung zu zerstören. Die Mathilda röhrte und rülpste, stieß schwarzen Qualm aus und bettelte auf ihre ganz eigene Art um einen baldigen Werftbesuch. Ein Wellenkranz breitete sich kreisförmig aus, wanderte gemächlich durch das ganze Hafenbecken und leckte an den Rümpfen der wenigen schlanken Jachten, die um diese Jahreszeit im Hafen lagen. Den Barther Bodden zu befahren, war nun wahrlich alles andere als eine halsbrecherische maritime Expedition. Seitdem das Funkgerät der Mathilda defekt war, hatte es sich Tom dennoch angewöhnt, das Handy einzuschalten, bevor er aus dem Hafenbecken fuhr. An diesem Morgen musste er darauf verzichten: Auf dem Display blinkte kurz die Akkuanzeige, dann wurde es wieder schwarz. Er wusste, dass das Ladegerät auf dem Couchtisch in seinem winzigen Wohnzimmer lag und steckte das Handy missmutig, aber keineswegs beunruhigt in seine Tasche zurück.

Als die Mathilda langsam durch die Hafenausfahrt bollerte und die grünbraune Boddensuppe durchpflügte, war es wieder da, dieses Gefühl von Glück, das ihn fast immer überkam, wenn er von Barth nach Zingst rüberfuhr. Er kam aus der mittelalterlichen, einstmals stolzen Handelsstadt und fuhr in das kleinere, aber wirtschaftlich blühende Zingst; in den Ort, in dem die meisten Touristen ihr Geld ließen, während die alte Perle Barth ein wenig verstaubte. Zingst hatte den kilometerlangen Sonnenstrand, hatte die Wellen der Ostsee, hatte immer gute Laune und kaum eine verkommene Ecke.

Barth hatte eine Geschichte, verwinkelte Gassen und architektonischen Charme. Zingst hatte Dutzende gestaltloser Apartmenthäuser, Barth ständig Besuch vom Denkmalschutz. Zingst hatte laute Musik am Strand, Barth die mäßig beliebten Konzerte des Orgelsommers. Die Prioritäten der meisten Besucher ließen Barth genau so aussehen, wie es nun mal war – ganz schön alt. Und irgendwie passte dieser Wettstreit ganz gut zu Toms eigenem Leben: Wenn er von Barth nach Zingst fuhr, hatte er das Gefühl, eine leicht verkratzte Existenz hinter sich zu lassen und zu einer neuen, hoffnungsvolleren und fröhlicheren Hälfte seines Daseins aufzubrechen. Er wusste, dass er diese Seite seines Lebens vor allem Clara verdankte. Er freute sich auf jede Überfahrt wie ein achtjähriger Junge – und trotzdem wäre er nie auf die Idee gekommen, sein winziges Reihenhaus in der Gartenstraße aufzugeben und zu Clara zu ziehen. Er wollte auf die alte Hälfte seines Daseins nicht verzichten. Man hätte es auch so sagen können: Er war mit den dunklen Seiten dieses alten Daseins noch lange nicht fertig.

Selbst auf dem weitläufigen Barther Bodden, den nicht selten ein scharfer Westwind zum Schäumen brachte, bildete das Wasser an diesem Morgen eine beinahe glatte Fläche. Nur hin und wieder strich eine leichte Windböe darüber. Dann kräuselte sich die Wasseroberfläche und es sah so aus, als ob den Bodden ein morgendliches Frösteln überkäme. In großzügigem Abstand passierte Tom die Markierungen der Stellnetze. Die kleinen, schmalen Stangen mit den schwarzen Fähnchen ragten beinahe bewegungslos aus dem Wasser. Sie wirkten wie die Winkelemente Ertrunkener, die mit einem leblosen Gruß die Nachwelt erschaudern lassen wollen. Das Kielwasser der Mathilda versetzte sie für einen Augenblick in nervöse Aktivität.

Nach einigen Minuten ereignisloser Fahrt rutschte Tom in einen Zustand träger Zufriedenheit, begünstigt durch das monotone Motorengeräusch und das sanfte Schwingen des Bootrumpfes. Er befand sich etwa auf gleicher Höhe mit der Spitze der Halbinsel Fahrenkamp, die den Barther Bodden von der Grabow trennt, als er den braunen Rumpf eines kleinen Segelschiffes entdeckte, das scheinbar führerlos auf dem Wasser trieb. Er dachte im ersten Moment, es sei ein recht groß geratenes Ruderboot. Erst als er das Fernglas zur Hand nahm, erkannte er, dass es sich um einen Zeesenkahn handelte, eines der traditionellen Fischerboote der Region. In früheren Zeiten hängten die Fischer auf eine Seite ein Schleppnetz, das sich wie eine riesige Einkaufstasche zwischen Bug und Heck spannte. Dann stellten sie die Segel so ein, dass Boot und Netz seitwärts durch das Wasser drifteten. Dieses Exemplar lag allerdings vollkommen bewegungslos im Wasser. Es schien unbesetzt zu sein, nirgendwo hinzuwollen und nirgendwo herzukommen. Die Mathilda seufzte dankbar auf, als Tom den Gashebel auf neutral stellte. Die Barkasse verlor schnell an Fahrt und drehte sich ratlos nach Steuerbord, während Tom das Zeesboot mit dem Fernglas genauer betrachtete. Es war etwas kleiner als die meisten seiner Art und außerdem in einem sehr schlechten Zustand. Über dem verwitterten und fleckigen Rumpf hingen die Fetzen eines Vorsegels, das große Rahsegel und der hintere Mast fehlten.

Die Mehrzahl der Zeesboote, die noch auf den Boddengewässern zwischen Ribnitz und Barhöft unterwegs sind, gehören Liebhabern, die ihre alten Schätzchen sorgsam pflegen. Etliche andere werden für Ausfahrten mit Touristen eingesetzt. Tom kannte niemanden, der solch ein Boot einfach verfallen oder unbeaufsichtigt auf dem Wasser treiben lassen würde. Er setzte das Fernglas ab und spuckte über die Reling. Es sprach alles dagegen, einen Abstecher zu dem herrenlosen Wasserfahrzeug zu unternehmen. Der Tank der Mathilda war noch knapp zu einem Viertel gefüllt, wenn man der zitternden Nadel auf der Instrumententafel glauben wollte. Leider gehörte zu den Launen der Mathilda auch ein gemeines Spiel mit der Tankanzeige. Tom konnte sich kaum ein größeres Missgeschick vorstellen, als an einem Feiertag morgens ohne Sprit auf dem Bodden zu treiben, noch dazu ohne ein funktionierendes Funkgerät und Handy.

Seine Neugier siegte über die Vernunft. Er wusste später nicht mehr, was den Ausschlag gegeben hatte: das merkwürdig verkommene Äußere des Zeesbootes, die eigenartig verhaltene Stimmung an diesem Morgen, die ihn auf eine Abwechslung hoffen ließ, oder sein lange Jahre ausgeübter Beruf als Journalist, dem er ein Gespür für Situationen verdankte, denen nachzugehen sich lohnte. Von Barth hörte er Glockenschläge – es musste gerade acht Uhr sein. Die Mathilda glitt mit minimalem Vorschub über die glatte Wasseroberfläche. Tom umkreiste die Markierungen einer Aalreuse, steuerte von der Seite auf das Zeesboot zu und brachte seine Barkasse mit einer behutsamen Drehung an dessen Seite zum Stehen. Er verließ den Steuerstand, nahm den Bootshaken auf und ging zur Reling. Aber noch bevor er den Rand des Bootes zu fassen bekam, erstarrten seine Bewegungen.