c't 16/2017
S. 22
News
Metrologie

Gewichtsverschiebung

Die Neudefinition des Kilos

Seit 128 Jahren bildet ein Zylinder aus Platin und Iridium das Referenznormal für die Maßeinheit Kilogramm. Doch die Masse des sogenannten Ur-Kilos, auf das alle Waagen geeicht sind, schwankt. Deshalb soll das Kilogramm auf Grundlage von Naturkonstanten jetzt neu definiert werden. Das hat auch Auswirkungen auf andere physikalische Größen.

Das Kilogramm ist nicht das, wofür es gehalten wird: eine verlässliche Einheit für Masse. Denn das Referenznormal für die Maßeinheit Kilogramm, ein 3,9 Zentimeter hoher und 3,9 Zentimeter dicker Metallzylinder, der zu 90 Prozent aus Platin und zu 10 Prozent aus Iridium besteht, ist leichter geworden.

Gut 50 Mikrogramm fehlen dem Ende des 19. Jahrhunderts hergestellten und in einem Tresor des Pariser „Bureau International des Poids et Mesures“ (BIPM) gelagerten Ur-Kilogramm aktuell. Wohin sich die Masse verflüchtigt hat? Weiß keiner. Ob früher vielleicht falsch gemessen wurde? Weiß auch keiner.

Aufgefallen sind die Schwankungen bei Routineüberprüfungen. Es gibt mehrere offizielle Kopien des Ur-Kilos, auf die wiederum zahlreiche nationale Kilogrammprototypen geeicht sind. Diese besitzen Staaten, die der „Internationalen Meterkonvention“ angehören.

Die PTB besitzt vier Kilo-Prototypen – darunter die abgebildete Nr. 52. Alle sind vom Pariser Ur-Kilo abgeleitet. Bild: PTB

Deutschland zum Beispiel verfügt über vier solcher Prototypen, die von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig verwahrt und für eigene Referenz- und Arbeitsnormale genutzt werden. Weltweit existieren etwa siebzig Stück.

Im Internationalen Einheitensystem (SI) der physikalischen Größen nimmt das Kilogramm schon lange eine Außenseiterrolle ein. Denn von den sieben Basisgrößen Länge, Masse, Zeit, Stromstärke, thermodynamische Temperatur, Stoffmenge und Lichtstärke bezieht sich lediglich das Kilogramm als Grundeinheit der Masse noch auf einen von Menschenhand im makroskopischen Maßstab geschaffenen Gegenstand.

Die anderen Basiseinheiten leiten sich längst von atomaren beziehungsweise subatomaren Prozessen ab. Beispielsweise entspricht ein Meter heute der Strecke, die Licht im Vakuum während des 299.792.458-Teils einer Sekunde zurücklegt. Letztere ist wiederum als das 9.192.631.770-fache der Periodendauer von Strahlungsschwingungen an Energieniveau-Übergängen des Cäsium-Isotops 133Cs definiert.

Doch dem instabilen Ur-Kilo geht es jetzt an den Kragen: Auf der Generalkonferenz für Maße und Gewichte, die alle vier Jahre in Paris stattfindet, soll 2018 ein neuer Standard zur Definition des Kilogramms auf Grundlage von Naturkonstanten bestimmt werden. Zwei Methoden haben sich dabei als besonders vielversprechend erwiesen: sogenannte Watt-Waagen und das Avogadro-Projekt.

Quantenphysik

Bei Watt-Waagen handelt es sich vereinfacht ausgedrückt um Messsysteme, die mechanische Gewichtskräfte durch elektromagnetische Kräfte aufwiegen und einen sehr präzisen Vergleich von mechanischer und elektrischer Leistung ermöglichen. Auf Grundlage bekannter quantenmechanischer Effekte lässt sich dann ein Zusammenhang zwischen Masse und dem Planck’schen Wirkungsquantum h als Naturkonstante herstellen. Masse wird somit über ihr quantenphysikalisches Energie-Äquivalent ermittelt.

Mehrere solcher Watt-Waagen, die sehr unterschiedlich konstruiert sind, existieren bereits. Eine davon hat das Eidgenössische Institut für Metrologie (METAS) in Bern gebaut. Messungen auf der Schweizer Watt-Waage finden im Hochvakuum und in zwei Schritten statt. Zunächst wird die Waage in einer statischen Phase mithilfe einer integrierten Kraftzelle exakt ausbalanciert.

Als Referenz dient eine Masse, die dem Schwerefeld der Erde ausgesetzt ist und eine mechanische Vertikalkraft ausübt. Kompensiert wird die Kraft von einer ebenfalls vertikal wirkenden elektromagnetischen Kraft, die eine stromdurchflossene Kupferdraht-Spule in einem starken horizontalen Magnetfeld erzeugt. Die elektrische Kraft ergibt sich aus dem Produkt von Strom (I), Flussdichte (B) und Drahtlänge (L).

Dann entfernt man die Testmasse und führt dieselbe – jetzt stromlose – Spule über einen Laserinterferometer-gesteuerten Mechanismus mit konstanter Geschwindigkeit vertikal durch das Magnetfeld, was eine Spannung U = BLv in die Spule induziert. Mit diesem Trick lässt sich beim Umformen und Kombinieren mathematischer Gleichungen jetzt die sonst schwierig zu ermittelnde Größe BL eliminieren. Am Ende bleibt eine einfache Formel übrig, die besagt, dass die aufgewendete elektrische Leistung gleich der mechanischen Leistung ist: UI = mgv. Daher auch der Name Watt-Waage.

Strom und Spannung messen die Wissenschaftler mit speziellen Instrumenten, die quantenphysikalische Effekte (Josephson-Effekt und Quanten-Hall-Effekt) berücksichtigen. Da die elektrischen Größen über quantenmechanische Phänomene erfasst werden, lässt sich eine sehr genaue Beziehung zwischen Kilogramm und dem Planck’schen Wirkungsquantum herstellen. Watt-Waagen sind umso präziser, je genauer sie die Nachkommastellen des Planck’schen Wirkungsquantums bestimmen können, das im Internationalen Einheitensystem derzeit mit einem Wert von 6,626.070.040 × 1034 Js (Joulesekunde) angegeben wird.

Da die besten Watt-Waagen heute eine relative Messungenauigkeit von weniger als 2 × 108 aufweisen, erfüllen sie die Bedingungen für eine Neudefinition des Kilogramms ebenso wie das Avogadro-Projekt.

Im Rahmen des Avogadro-Projekts zur Neudefinition des Kilogramms berechnen Wissenschaftler die Anzahl von Atomen hochreiner Silizium-Kugeln. Die Abweichung liegt bei unter 2 × 10^–8. Bild: PTB

Atom-Zählung

Beim Avogadro-Projekt werden keine mechanischen und elektromagnetischen Leistungen miteinander verglichen, sondern die Wissenschaftler versuchen, das Kilogramm über das Zählen von Atomen einer hochreinen Silizium-Kugel möglichst exakt zu bestimmen.

„Vereinfacht gesagt finden wir heraus, was ein Silizium-Atom wiegt und können im Umkehrschluss berechnen, wie viel Silizium-Atome für ein Kilogramm erforderlich sind“, erklärt Dr. Ingo Busch, Wissenschaftler der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt.

Referenz ist die Avogadro-Konstante NA, ebenfalls eine Naturkonstante, die nach dem italienischen Physiker Amedeo Avogadro benannt ist und im Einheitensystem zurzeit den Wert von 6,022.140.857 × 1023 mol1 hat. Konkret bedeutet das, dass sich in jedem Mol eines reinen Stoffes etwa 602 Trilliarden Atome dieses Stoffes befinden.

Um von der kleinsten Silizium-Einheit aufs große Ganze zu schließen, benötigt man sehr reines Material. Beim Avogadro-Projekt kommen deshalb hochangereicherte Silizium-Einkristalle zum Einsatz, die zu 99,998 Prozent aus 28Si bestehen und eine fast fehlerfreie Gitterstruktur aufweisen.

Nach dem Herausschneiden aus einem Rohzylinder wird das Material zunächst geschliffen und poliert, bis eine nahezu perfekte Kugel entsteht. Anschließend vermessen die Wissenschaftler die Kristalleigenschaften (molare Masse, Gitterparameter und Verunreinigungskonzentration) sowie die Kugeleigenschaften (Masse, Volumen und Oberflächenschichten) und ermitteln darüber die Avogadro-Konstante.

Ähnlich wie bei der Watt-Waage gilt auch hier: Je genauer sich die Nachkommastellen der Avogadro-Konstante bestimmen lassen, umso präziser kann das Kilogramm auf Grundlage dieser Naturkonstante neu definiert werden. Da Avogadro-Konstante und Planck’sches Wirkungsquantum über eine feste physikalische Relation – die sogenannte molare Planck-Konstante – verknüpft sind, lassen sich die Genauigkeiten der beiden Messverfahren gut miteinander vergleichen.

Watt-Waagen, wie diese des Eidgenössischen Instituts für Metrologie in Bern, ermöglichen einen präzisen Vergleich von mechanischer und elektrischer Leistung. Bild: METAS

Ampere und Kelvin

Anfang Juli ist die Frist zur Einreichung von Forschungsergebnissen für die 2018 geplante Neudefinition des Kilos abgelaufen. Die bislang veröffentlichten wissenschaftlichen Paper zeigen, dass beide Messmethoden die Anforderungen erfüllen.

Bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt geht man deshalb davon aus, dass sowohl die Watt-Waage als auch die Avogadro-Methode das Urkilogramm im nächsten Jahr gemeinsam ablösen werden. Staaten könnten dann wählen, nach welcher Methode sie künftig ein Kilogramm bestimmen, heißt es bei der PTB.

Von der Neudefinition des Kilogramms und einer präziseren Fixierung von Avogadro-Konstante und Planck’schem Wirkungsquantum profitieren auch andere physikalische Einheiten: zum Beispiel das Ampere, das bislang eine relativ hohe Messunsicherheit aufweist. In einem modernisierten Einheitensystem soll die Stromstärkeeinheit künftig nicht mehr als Kraft zwischen zwei stromdurchflossenen Leitern definiert werden, sondern über den Wert der Elementarladung e – ebenfalls eine Naturkonstante.

Gleiches gilt für das Kelvin als Einheit der thermodynamischen Temperatur. Derzeit wird das Kelvin noch über den sogenannten Triplepunkt von Wasser definiert, das dazu in einer ganz bestimmten isotopischen Zusammensetzung vorliegen muss. In Zukunft soll das Kelvin jedoch auf Basis der sogenannten Boltzmann-Konstante definiert werden. Diese gibt an, wie die thermische Energie eines Gases – also die Bewegung der Gasteilchen – von der Temperatur abhängt. (pmz@ct.de)