iX 2/2021
S. 3
Editorial
Februar 2021

Doppelzüngig

Kaum haben Twitter, Facebook und Co. dem Demagogen Trump nach dem Sturm auf das Kapitol sein digitales Megafon entrissen, kritisieren europäische Politikerinnen – allen voran Bundeskanzlerin Merkel – das als unberechtigten Eingriff in die Meinungsfreiheit. Nur der Gesetzgeber dürfe das tun, nicht aber Unternehmen wie privat geführte IT-Firmen.

Gehen wir gut fünf Jahre zurück: Da diskutierte man über aus Deutschland stammende Hassreden in sozialen Netzen, da flehte Merkels Justizminister Maas die US-Konzerne an, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen, und da kommentierte er die Bildung einer Arbeitsgruppe bei Facebook mit den Worten: „Ich bin Facebook sehr dankbar, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen.“ So sehr sogar, dass er mit dem NetzDG 2017 das Löschen und Sperren rechtswidriger Inhalte an die Plattformbetreiber delegierte.

Nun aber, wo der gesperrte bekennende Demokratieverächter und Brandstifter einflussreich und Inhaber eines hohen politischen Amtes ist, heißt es: „Sollte diese Entscheidung in den Händen eines Tech-Unternehmens liegen, das keine demokratische Legitimation oder Aufsicht hat?“ So formulierte es der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton.

Ohne große Sympathien für US-Datengiganten wie Google, Facebook und Twitter zu hegen, drängt sich der Verdacht auf, wirklich richtig machen können sie es nun nicht mehr, und erst recht niemandem recht. Hier ein paar Beispiele, mit welchen Maßnahmen Onlinedienste auf die Ereignisse in Washington reagierten und wozu das führte.

PayPal und GoFundMe entledigten sich der Nutzer, die Gelder für die Anreise nach Washington sammelten. Stripe stellte die Geldabwicklung von Trumps Kampagnen ein, Shopify nahm zwei Trump-Merchandise-Shops aus dem Hosting. Twitter löschte Accounts von bekannten QAnon-Unterstützern und fror mehr als 70000 Konten ein, die vorwiegend QAnon-Inhalte, Gewaltaufrufe und Falschinformationen zur Präsidentschaftswahl teilten. Durch das große Deplatforming bekam die rechte Plattform Parler massenhaften Zulauf neuer User. Google Play und Apple nahmen deren App aus ihren Stores. Dann zog Amazon den Stecker und schmiss Parler aus ihrem Cloud-Hosting. Darauf liefen die rechten Anhänger zu Gab.

Auch die andere Seite ist unzufrieden: Warum sei das nicht viel früher und konsequenter passiert? Warum musste es erst zu dieser historischen Zäsur kommen? Das verweist auf einen weiteren Aspekt: die Gefahrenabschätzung. Die kann man offenbar von jedem Menschen und jedem Unternehmen verlangen, nur anscheinend von Politikern nicht, die Trump und andere Brandstifter so lange hofierten und hofieren.

Und nun? Einerseits sollen Twitter und Co. das Kind aus dem Brunnen ziehen, in den sie selbst und die politisch Verantwortlichen es geworfen haben, andererseits sollen sie es nur unter einer demokratischen Aufsicht tun dürfen, die aber zur Arbeitsverweigerung tendiert. Das Dilemma, in dem sich damit alle befinden, die mit Daten und Meinungen umgehen, müssen aber schon die Gesellschaft und ihre Institu­tionen auflösen.

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