Make Magazin 3/2018
S. 90
Porträt: Naomi Wu aus Shenzhen
Aufmacherbild
Unter der Make-up-Palette dieses (etwas wuchtigen) Kosmetik-Kästchens aus dem 3D-Drucker verbirgt sich ein RasPi 3 – falls frau mal irgendwo einen netzwerkfähigen Rechner einschmuggeln will.

Cyborg und der sino:bit

Naomi Wu hat es geschafft, als produktive Makerin über die Grenzen ihrer Heimat China hinaus bekannt zu werden. Hier beschreibt sie ihren Weg, ihre Inspirationsquellen – und wie sie das erste zertifizierte Open-Source-Hardware-Projekt in China realisierte, dabei so tat, als ob sie kein Chinesisch könnte und sich um Kompatibilität mit dem deutschen Grundschul-Bastelboard Calliope mini bemühte.

Mein Name ist Naomi Wu (@realsexycyborg auf Twitter) und bin eine 23 Jahre alte Makerin und Hardware-Begeisterte aus China. Ich lebe in Shenzhen, dem „Silicon Valley der Hardware“. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ihr Smartphone oder Computer hier gefertigt wurde – vielleicht sogar von einem Mädchen, mit dem ich aufgewachsen bin. Shenzhen ist eine Stadt wie aus einem Cyberpunk-Film, technisch ganz vorne dran. Sie wächst mit beeindruckender Geschwindigkeit. Und ich bin mittendrin.

Mit ihrem „Poor Girl’s Monocular Display“ fliegt Naomi Drohnenrennen mit Live-Video aus Pilotensicht auf dem einen Auge, ohne dabei den Überblick über ihre Umgebung zu verlieren (oben). Der Infinity-Rock (unten) gewährt durch einen Spiegeltrick scheinbar Blicke ins Unendliche.

Shenzhen liegt in der Provinz Guangdong, Kanton nach der alten Schreibung – ich bin also Kantonesin. Shenzhen grenzt direkt an Hongkong und ist mit weniger als 40 Jahren eine der jüngsten Städte in China. Das spiegelt auch unsere Kultur wider. Man sagt, wir seien ein wenig wie New York – Menschen kommen von überall her, um ihr Leben zu ändern und ein Vermögen zu machen. Wir sind schnell und ehrgeizig, aber weniger konservativ als andere chinesischen Städte. Die „lokale“ Küche stammt aus ganz China, da die Bewohner aus allen Gegenden Chinas kommen – und zunehmend auch aus dem Westen. Shenzhen nannte man früher die Hauptstadt von Shanzhai – „Shanzhai“ ist unsere Bezeichnung für Nachahmer- oder geklonte Produkte. Offensichtlich wissen wir, dass dieses Geschäftsmodell – die Ideen anderer zu nehmen und nachzubauen – nicht nachhaltig ist. Wenn wir nur das täten, würden wir für immer Fabrikarbeiter bleiben. Deshalb investiert man hier eine erhebliche Menge an Ideen und Ressourcen, um ein Umfeld für Kreativität und Innovation zu schaffen. Mehr als alles andere bin ich ein Kind dieser unterstützenden Umgebung, in der Millionen Menschen das gleiche Ziel und die gleichen Werte teilen – die Produkte unserer eigenen Ideen herzustellen und zu besitzen. Schöpfende zu sein und nicht Lohnarbeiter. Wenn ich eine meiner Kreationen in der Öffentlichkeit präsentiere, ob das nun mein tragbarer 3D-Drucker oder der Unendlichkeitsspiegel-Rock, dann freut sich jeder. Denn, so verrückt sie auch sind: Wir alle streben danach, verrückt-kreativ zu sein. Wenn wir einen reichen Boss sehen, der in einem teuren Auto vorfährt, macht das keinen glücklich. Aber ein Selfie mit dem seltsamen Mädchen von nebenan zu machen, das mit einem 3D-Drucker auf dem Rücken U-Bahn fährt? Darüber lächelt jeder, denn das repräsentiert die kreative, interessante Stadt, die wir alle wollen. Außerdem ist es etwas, was uns traditionell nicht leicht fällt.