MIT Technology Review 1/2016
S. 12
Aktuell

» Ich hoffe, die Leute haben ihre Hausaufgaben gemacht «

Anonymous ist ein internationales loses Netzwerk von Internet-Aktivisten. Seit dem Anschlag auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ im Januar hat die Gruppe im Rahmen der #OpISIS-Kampagne Tausende Twitter-Konten zurückverfolgt und gemeldet, die angeblich von IS-Mitgliedern betrieben oder mit ihnen assoziiert wurden. Nach den Terroranschlägen von Paris verkündete das Hacker-Kollektiv in einem Internetvideo „die bisher größte Mission“ gegen den Islamischen Staat (IS) in Gang zu bringen. In der Öffentlichkeit treten die Aktivisten in der Regel anonym auf. Das folgende Interview wurde per E-Mail geführt. Die Antworten stammen von einem anonymen Mitglied der Untergruppe AnonOps, der ausdrücklich seine „persönliche Meinung“ vertritt.

TR: Dass Anonymous einer Terrororganisation wie dem IS den Krieg erklärt, wurde in der Öffentlichkeit entweder als leere Drohung bezeichnet, als naiv kritisiert oder als offensichtlicher Versuch verspottet, mit allen Mitteln in die Schlagzeilen zu kommen. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich persönlich bin da hin- und hergerissen. Der IS verfügt über eine starke Online-Präsenz, vor allem in den sozialen Medien. Die nutzen sie, um neue Leute zu rekrutieren. Über diese öffentliche Präsenz hinaus scheint es interne Kommunikation über Chat-Apps zu geben, die verschlüsselt abläuft. Bisher haben sich die meisten Leute bei Anonymous auf die öffentliche Präsenz des IS konzentriert, zum Beispiel indem sie dafür sorgen, dass entsprechende Twitter-Accounts vom Netz genommen werden.

Ist das effektiv? Das weiß ich nicht. Wie wollen Sie das messen? Wenn wir einfach als Erfolgskriterium nehmen, wie sichtbar der IS in sozialen Medien ist, dann haben unsere Aktionen etwas bewirkt. Aber hat das auch dazu geführt, dass der IS weniger Menschen rekrutiert hat? Da bin ich mir nicht sicher. Es wird immer Menschen geben, die aktiv nach Gruppen wie dem IS suchen. Das ist die traurige Realität.

Hat es vor der Aktion eine politische Diskussion gegeben? Wenn ja, gibt es eine gemeinsame Einschätzung zur Entstehung des IS und der politischen Lage im Nahen Osten?

Es gibt die ganze Zeit politische Diskussionen. Natürlich haben wir auch über das Attentat von Paris diskutiert. Aber es gibt keinen Konsens darüber, wo die Ursachen für diesen Terror liegen und was wir am besten dagegen tun sollten.

Ein großer Teil gibt den Interventionen der USA die Schuld, beziehungsweise dem Einmarsch in den Irak und der daraus folgenden Destabilisierung der Region. Andere argumentieren, dass die Politik im Nahen Osten extrem komplex ist und dass es nicht den einen Grund für die Probleme in der Region gibt.

Ich persönlich gehöre eher zu dieser Fraktion. Die Dinge waren schon ziemlich in Unordnung, bevor die USA da hineingestochen haben. War der Einmarsch der US-Truppen im Irak hilfreich? Wahrscheinlich nicht, aber er ist nicht der einzige Grund für das Erstarken des IS.

Wie unterscheiden Sie denn echte Dschihadisten von Leuten, die einfach nur radikale Positionen vertreten oder vielleicht auch nur rumtrollen?

Einfach ein paar Skripte zu verwenden wird sicherlich nicht funktionieren. Aber Programme, die fortgeschrittene Heuristiken benutzen, könnten schon funktionieren. Natürlich ist das ein Graubereich. Ich weiß, dass viele da draußen bei #OpIsis automatisiert nach IS-Accounts suchen. Und ich hoffe, die haben ihre Hausaufgaben gemacht und ihre Programme mit Testdaten geprüft.

Reicht das? Fälschlicherweise als Dschihadist beschuldigt zu werden, kann ja in einigen Gegenden durchaus lebensgefährlich sein.

Ich selbst habe mich noch nicht sehr ausführlich mit den Accounts beschäftigt, die wir gemeldet haben. Ich kann mir aber vorstellen, dass es dabei immer eine Fehlerrate gibt. Die Frage ist nur, ob diese Rate akzeptabel ist. Aber letztendlich liegt es natürlich in der Verantwortung der Geheimdienste, zu überprüfen, ob Informationen, die wir weitergeben, tatsächlich korrekt sind. Und natürlich entscheiden die Geheimdienste auch, was sie daraus machen.

Apropos Geheimdienste: Wie ist es möglich, dass Anonymous jetzt mit staatlichen Ermittlern zusammenarbeitet? Bisher verhielten sich Geheimdienste zu Anonymous wie Feuer zu Wasser.

Das ist auch immer noch so. Es gibt Menschen bei Anonymous, die ganz und gar nicht einverstanden sind mit dem, was wir machen.

Das ist ihr gutes Recht. Andere weigern sich, verdächtige Accounts zu melden und konzentrieren sich lieber darauf, Webseiten, die mit dem IS in Verbindung stehen, direkt anzugreifen, um sie offline zu bringen.

Man findet immer Gruppen, die denken, dass ihre Methode besser ist als die der anderen. Das führt oftmals zu vielen internen Streitereien. Eines unserer größten Probleme sind aufgeblasene Egos. Wenn Sie in unseren Chatkanälen sind, werden Sie viele Leute erleben, die sich selbst für sehr wichtig halten, die versuchen, die Führung an sich zu reißen und kontraproduktive Dinge tun. Sie finden Menschen, die gegen alle Aktionen dieser Operation argumentieren, aber Sie finden genauso viele, die sehr entschieden dafür sind. Das macht die Schönheit unserer Gruppe aus – es ist aber auch ihr Fluch. INTERVIEW: WOLFGANG STIELER