MIT Technology Review 10/2016
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Marketingmaschine

Was wäre, wenn Werbeflächen wirklich intelligent würden?

Schon lange wussten Experten, dass Computer Gefühle erkennen müssen, um wirklich als intelligent zu gelten. 2018 kam dann der Durchbruch. Google-Entwickler hatten mit einem Programm namens FaceLook die Mimik von Kinobesuchern massenhaft gescannt, mit dem emotionalen Gehalt der Filmszenen abgeglichen und das Ergebnis als App verfügbar gemacht. Die Werbeindustrie sprang sofort darauf an. Endlich konnte sie ihre Werbebotschaften nicht nur an Zielgruppen richten, sondern jedes Individuum dort abholen, wo es sich emotional gerade befand. Dabei beließen sie es jedoch nicht. Die digitalen Reklameflächen wurden mit Sensoren ausgestattet, die neben Mimik und Gestik auch Gangart interpretierten. Sie konnten wahrnehmen, ob jemand in der Menge hustete oder nieste und boten individuell passende Medikamente an. Labelscanner für Kleidermarken und Rückgriffe auf Modedatenbanken erlaubten es, auf Herkunftsmilieu und Einkommen von Passanten zu schließen. Die Leuchtwerbung von Bushaltestellen lernte, zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden und bestimmte Spots nur zu zeigen, wenn jeweils das eine oder andere Geschlecht hinguckte.

Die Mühe, seine Aufmerksamkeit ständig auf sein Gegenüber zu richten, beherrschten die Maschinen immer besser. Bemerkenswerterweise trat damit der Verkauf von Produkten in den Hintergrund. Viele Menschen fanden die Konversation mit einem smarten Schaufenster spannender als die angepriesenen Waren. Attraktive Unterwäschemodels verwickelten Spaziergänger in angeregte Unterhaltungen. Die Einkaufsstraßen füllten sich auch nach Geschäftsschluss – was allerdings nicht jeden freute. 2020 gab es die erste Scheidung aus Eifersucht auf eine KI-Schaufensterpuppe. Zudem gerieten Berufsstände wie Gesprächstherapeuten in eine zunehmend prekäre Lage. Schließlich waren die Werbefiguren darauf programmiert, das Individuum immer besser zu verstehen. Dazu mussten sie in seinem Innersten wühlen – und der Mensch genoss es.

Als Durchreicher von Kaufanreizen funktionierten die Maschinen damit leider nur noch bedingt. Die Marketingexperten waren zunächst entsetzt, dann aber kam eine junge Agentur namens Solaris auf eine brillante Idee: Sie machte die intelligenten Anzeigen selbst zum Produkt. Passanten sollten für ihr unstillbares Verlangen, immer besser verstanden zu werden, bezahlen. Ihren Namen entlehnte die Agentur aus Stanislaw Lems Meisterwerk „Solaris“. In dem Roman wird ein Planet beschrieben, der von einem unergründlich intelligenten Plasma umgeben ist. Wie ein Neuankömmling bald merkt, ist das Plasma offenbar in der Lage, die tiefsten Geheimnisse eines Menschen zu lesen und körperlich werden zu lassen – das Wissen um die Schuld am Tod einer Geliebten etwa, die dem Neuankömmling fortan in Person begegnet.

Die Werbemittel wurden zu diesem Plasma – allerdings ohne die Gefahr für negative Empfindungen. Sie wurden zu einem neuartigen, algorithmisch gesteuerten Medium, das den tiefen Wunsch nach Glück und Wohlgefühl im Menschen stillte.

Was früher Leuchtkästen und Bildschirmwände gewesen waren, entwickelte sich zu modularen, mobilen Marketingeinheiten. So konnten sich aus digitalen Plakatwänden autonom bewegliche Teile lösen, die einen auf allerfreundlichste und überraschende Weise begleiteten. Die Understander, wie die Drohnen genannt wurden, konnten ihre Form frei verändern, sodass man beispielsweise unvermittelt eine hochinteressante Konversation mit einer sprechenden Katze führte, die nach drei Minuten das Text-Taxameter einschaltete. Merkwürdig wurde es nur, wenn man mit einem einfühlsamen Menschen ins Gespräch kam und nicht sicher war, ob es tatsächlich einer war. Peter Glaser