MIT Technology Review 10/2016
S. 97
Fundamente
Rückschau

Radio statt Internet

An dieser Stelle blicken wir zurück auf Artikel, die vor fünf Jahren in Technology Review erschienen sind. Diesmal: Soziale Medien im Arabischen Frühling

technology review 10/2011 Vom Oppositionsorgan zur Propagandaplattform.

Vor fünf Jahren erreichte der Arabische Frühling seinen Höhepunkt. Die Alleinherrscher in Ägypten, Tunesien und Libyen hatten ihre Macht bereits verloren. Nur Syriens Präsident Bashar al-Assad hielt sich „bei Redaktionsschluss noch“, wie TR in Heft 10/2011 schrieb.

Damals waren die sozialen Medien vor allem ein Mittel der Opposition, sich zu organisieren. Heute sind sie gleichzeitig auch Propagandaplattform von Diktatoren und Terroristen. Assad kontrolliert das Netz strikt oder schaltet es gleich ganz ab.

Trotzdem nutzt insbesondere der Islamische Staat (IS) soziale Medien erfolgreich zur Rekrutierung von Mitkämpfern. Wie das möglich ist, brachte eine Recherche des „Spiegel“ zutage: Satellitenschüsseln werden – zum Teil von deutschen Firmen – an Zwischenhändler in die Türkei geliefert. Von dort bringen Schmuggler sie in die vom IS kontrollierten Gebiete. Da die Verbindung teuer ist, haben Privatleute kaum Zugang zum Netz. Technisch ließe sich der Onlinezugang des IS laut „Spiegel“ relativ leicht abschalten, aber daran haben die Provider kein Interesse.

Damit sich die breite Bevölkerung auch ohne Internet informieren kann, hat die Berliner Organisation „Media in Cooperation and Transition“ kleine UKW-Sender entwickelt, die sich im Land verstecken lassen. Sie empfangen Radiosignale über Satellit und verbreiten sie in einem Radius von etwa acht Kilometern weiter. Derzeit arbeiten in Syrien erst zwölf Stationen, weitere sollen im Rahmen eines vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts folgen.

Wo das Netz noch oder schon wieder funktioniert, beharken sich verfeindete Hackerbrigaden. Die westliche Anonymous-Bewegung liefert sich etwa mit der regimetreuen „Syrian Electronic Army“ einen Wettstreit, gegnerische Webseiten zu blockieren oder zu entstellen.

Für viele Syrer haben Kanäle wie Facebook hingegen viel praktischere Bedeutung – als Hilfe bei der Flucht. Schleuser preisen dort ihre Dienste zu festen Tarifen an, ähnlich wie Reisebüros. Bewertungssysteme schaffen dabei so etwas wie Verlässlichkeit. So können sich die Flüchtenden ein Stück Selbstbestimmung zurückerobern. GREGOR HONSEL