MIT Technology Review 11/2016
S. 60
TR Mondo

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Technology Review ist mit Autoren weltweit vertreten. Auf den folgenden Seiten berichten sie über die spannendsten Entwicklungen in ihren Ländern.

FRANKREICH

„Jeder achte französische Hausarzt ist Impfskeptiker“

Foto: Privat

Frankreich ist einer aktuellen Studie zufolge mit 41 Prozent weltweit das Land mit dem größten Anteil von Impfskeptikern in der Bevölkerung. Das zeigt die auf der Onlineplattform EBioMedicine veröffentlichte Überblicksstudie „The State of Vaccine Confidence 2016: Global Insights Through a 67-Country Survey“. Über die möglichen Ursachen spricht als einer der Co-Autoren der französische Mediziner Pierre Verger, Studiendirektor am Observatoire régional de la santé Provence-Alpes-Côte d’Azur.

TR: Sie gehören einem Wissenschaftlerteam an, das in 67 Ländern die Meinung der Bevölkerung zum Thema Impfschutz abgefragt hat. Das Ergebnis: Die Impfskepsis nimmt zu. Und in Ihrer Heimat Frankreich genießen Impfungen so wenig Vertrauen wie sonst nirgendwo.

PIERRE VERGER: Ja. 41 Prozent der in Frankreich Befragten glauben, dass Impfungen nicht sicher sind. Und 17 Prozent zweifeln an ihrer Wirkung.

Wie erklären Sie sich das?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Seit mehr als 20 Jahren werden in Frankreich ständig Debatten über unterschiedliche Impfungen geführt. Das begann in den 1990er-Jahren mit der Hepatitis B. Damals behaupteten einige Patienten, sie seien durch die Impfung an Multipler Sklerose erkrankt. Ein anderes Beispiel ist die Pandemie H1N1, die sogenannte Schweinegrippe. Es gab Kritik an der extrem schnellen Entwicklung und Produktion des Impfstoffes sowie an den Massenankäufen durch das Gesundheitsministerium. Danach kam die Diskussion über die HPV-Impfung auf gegen die Papillomviren, die Gebärmutterhalskrebs verursachen können. Insgesamt waren es fünf oder sechs heftige Diskussionen über unterschiedlichste Impfungen, die monatelang die öffentlichen Debatten bestimmt haben.

Das war doch überall in Europa so. Und dennoch sind die Franzosen wesentlich skeptischer gegenüber den Impfungen als die restlichen Europäer.

Das ist ja auch nicht alles. In Frankreich ist das Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen wesentlich ausgeprägter als in anderen Ländern. Dieses Misstrauen wurde durch mehrere schwere Krisen im Gesundheitssystem noch verstärkt. Das begann mit dem Thema Asbest, das nur sehr zögerlich angegangen wurde und sich zu einem Skandal ausgeweitet hat, der das Gesundheits- und das Arbeitsministerium betraf. Hinzu kommen Skandale um Medikamente, die trotz schwerer Nebenwirkungen nicht vom Markt genommen wurden, oder die Aidskrise bei Blutreserven. Das alles führt zu einer Stimmung, die von Misstrauen gegenüber den Gesundheitsbehörden geprägt ist.

Heißt das, viele Menschen halten alles für möglich, wenn es um die Gesundheitsbehörden geht?

Ein Teil der Bevölkerung hat jegliches Vertrauen in das Gesundheitssystem verloren. So wurde zum Beispiel die Gesundheitsministerin zur Zeit der H1N1-Pandemie beschuldigt, sich von Experten beraten zu lassen, die gleichzeitig im Dienste der großen Laboratorien der Pharmaindustrie standen, die dann die Impfstoffe entwickelten. Solche Anschuldigungen bestimmten die Debatte in den Medien.

Wie erklären Sie sich, dass die Impfskepsis bei gut gebildeten Menschen stärker ist als bei dem Rest der Bevölkerung?

In den meisten hoch entwickelten Ländern sind die Menschen vom technischen Fortschritt enttäuscht. Neue Entwicklungen sind ihnen oft vollkommen unverständlich. Diese Kritik am Fortschritt geht vor allem von gut gebildeten Schichten aus. Das begann mit der Atomenergie in den 1980er-Jahren und betrifft heute weite Teile der Technik und Wissenschaft. Dass es in Deutschland oder Großbritannien eine Bewegung gegen die Masernimpfung gibt, ist ein Ausdruck davon. Das Internet ist voll von Seiten, die Masernimpfungen mit Argumenten kritisieren, die jeder Grundlage entbehren. So wird zum Beispiel behauptet, dass die Impfung zu Autismus führen kann.

Ist das auch der Grund dafür, dass es mehr Impfskeptiker in den hoch entwickelten Ländern gibt als zum Beispiel in Afrika oder Südamerika?

Ja, das hat genau damit zu tun.

Die Impfmüdigkeit ist gefährlich, wie die Zunahme der Masernerkrankungen in Europa zeigt. Was kann getan werden, um das Vertrauen in die Regelimpfungen wiederherzustellen?

Der wichtigste Ansatz sind die Hausärzte. Sie müssen die Familien von der Notwendigkeit der Impfungen überzeugen. Aber jeder achte Hausarzt ist selbst Impfskeptiker, wie eine andere unserer Untersuchungen zeigt. Die Ärzte in Frankreich und speziell die Hausärzte sind sehr wenig ausgebildet, was die Impfungen angeht. Sie sind nicht in der Lage zu erklären, wie ein Wirkstoff funktioniert, warum eine Impfung notwendig ist und welche Risiken sie hat.

Interview: Reiner Wandler