MIT Technology Review 12/2016
S. 114
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Vergiss es!

Was wäre, wenn es zuverlässige Lügendetektoren gäbe?

Auf dem Nachhauseweg vom Gericht pfiff Philip entspannt vor sich hin. Er hatte dreifachen Grund zur Freude: Es war ein schöner Spätsommertag, seine Migräne war endlich verflogen, und der Staatsanwalt hatte ihm nichts nachweisen können. Wie auch? Schließlich war er vollkommen unschuldig. Zumindest unschuldig am illegalen Handel mit Emissionszertifikaten, den der Staatsanwalt ihm aus unerfindlichen Gründen vorgeworfen hatte. Bei solchen Geschichten würde er sowieso niemals mitmachen. Schließlich war er gesetzestreu und umweltbewusst.

Entsprechend wenig hatte dem Staatsanwalt sein hübsches neues Spielzeug gebracht – ein sündhaft teurer Magnetresonanztomograf als Lügendetektor. Im Juristendeutsch hieß der natürlich nicht Lügendetektor, sondern „Wiedererkennungstest mittels bildgebender Verfahren“ (WiMiBi). Ein Algorithmus konnte anhand von charakteristischen Signalen echte von falschen Erinnerungen unterscheiden – und das zuverlässiger als die Menschen selbst.

Als die ersten WiMiBis Ende der 2010er vor Gericht zugelassen wurden, waren sie zunächst nur zur Entlastung eines Angeklagten zulässig. Doch der angeblich objektive Blick in das Hirn von Zeugen und Verdächtigen weckte schnell die Begehrlichkeit der Justiz. In einem aufsehenerregenden Prozess entschied der Europäische Gerichtshof 2021, dass auch belastende Ergebnisse der WiMiBis verwendet werden dürfen. „Alles, was sie von jetzt an denken, kann vor Gericht gegen sie verwendet werden“, wurde schnell zum geflügelten Wort. Dass die Trefferquote der WiMiBis nicht über 80 bis 90 Prozent hinauskam, juckte kaum einen Juristen. „Augenzeugen sind deutlich unzuverlässiger“, hieß es.

Ursprünglich hatte Philip erwogen, sich zur Sicherheit einen Neurotrainer zu engagieren. Schließlich könnte ausgerechnet er zu den 10 bis 20 Prozent falschen Treffern gehören. Der Trainer versprach, mit speziellen Meditationstechniken jeden Detektor austricksen zu können. Doch als sich der angebliche WiMiBi-Guru als Studienabbrecher mit Neigung zu ostasiatischer Esoterik, wirrem Haar und ziemlich selbstbewussten Honorarvorstellungen entpuppte, nahm Philip schnell wieder davon Abstand. Wozu so einem halbseidenen Typen Geld hinterherwerfen, wo er doch ein reines Gewissen hatte?

In der MRT-Röhre bekam Philip bunte Bilder gezeigt – rauchende Schlote von Kohlekraftwerken, ein Dagobert Duck im Geldspeicher, Händler an der Wall Street. Unverfängliches Zeug zum Warmwerden. Dann sollte es offenbar ans Eingemachte gehen: die Kopie eines Vertrags, das Foto eines schmierig wirkenden Geschäftsmanns, der Grundriss eines Büros. Nichts davon sagte Philip etwas. Durch die Scheibe des Kontrollraums konnte er sehen, wie sich der Staatsanwalt frustriert auf die Unterlippe biss.

Drei Monate später fand Philip einen Umschlag in der Tasche seines Wintermantels. Er enthielt einen altmodischen USB-Stick und einen Zettel mit den Worten: „Nicht vor November öffnen“. Nach dem Einstöpseln spielte der Stick automatisch eine Videobotschaft ab. Auf dem Bildschirm sah Philip – sich selbst. „Hallo Kumpel“, hörte er sich sagen. „Sorry, falls du letzten Sommer Kopfschmerzen gehabt haben solltest. Ich musste deinem Gedächtnis chemisch etwas zu Leibe rücken, denn sonst hättest du – ich meine ich – es nie durch diesen verdammten Test geschafft.“ Philip rang nach Luft. „Aber wenn du jetzt nicht im Gefängnis sitzt, sind wir reich!“, fuhr sein Alter Ego fort. „Auf diesem Stick findest du die Zugangsdaten zu einem Bitcoin-Konto. Alles andere braucht dich nicht zu interessieren.“ GREGOR HONSEL