MIT Technology Review 12/2016
S. 98
Meinung
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Nichts kapiert

Wer gegen die Anti-Hatespeech-Kampagne #Nichtegal polemisiert, hat die Idee vom freien Netz nicht verstanden. In der Hysterie werden viel bedenklichere Initiativen übersehen.

Früher in der Schule haben wir viel diskutiert, wann eine Beleidigung anfängt, wann normaler Streit aufhört, und wann es unfair wird. Das tun die Schüler heute auch. Nur die Begriffe haben sich geändert: „Hate Speech“ und „Cyber-Mobbing“ heißt heute das, was früher Ausgrenzung oder einfach „unfair“ war. Diesen Diskussionsprozess unterstützt YouTube aktuell in einer Kampagne namens #Nichtegal. Und was geschieht im Netz? Ein Shitstorm tobt. Twitter-Nutzer verteidigen ihr Recht auf Hass, als gäbe es nichts Wichtigeres für eine Demokratie. Sie rufen „Zensur!“

Wie absurd. Die Kampagne schützt genau das, was ihre Widersacher vorgeben, so eifrig zu verteidigen: die freie Rede. Niemand will Gefühle verbieten. Es geht darum, dass Menschen ihre Meinung sagen können, ohne von einer kleinen, aber dafür umso lauteren Minderheit mit Hass überschüttet zu werden. Kein vernünftiger Mensch kann etwas dagegen haben. Noch absurder: Ein Teil jener, die nun empört „Zensur“ rufen, verlangen von der Politik, sie möge die US-Konzerne an die Leine legen, um hetzerische Inhalte im Netz einzudämmen. Google, Twitter oder Facebook sollen verbotene Inhalte auf ihren Portalen löschen, am besten mit intelligenten Algorithmen. Die Gemengelage macht deutlich: Wer gegen #Nichtegal polemisiert, hat zwei Dinge nicht verstanden: Dass sich erstens das Hate-Speech-Problem nicht technologisch lösen lässt, sondern nur gesellschaftlich. Und zweitens, dass die wirklichen Gefahren der sozialen Medien für die Demokratie ganz woanders liegen.

Natürlich ist #Nichtegal zum großen Teil Marketing. Trotzdem ist die Kampagne kein Grund, Ängste vor angeblich übermächtigen amerikanischen Unternehmen zu schüren. Digitalkonzerne unterrichten in deutschen Klassenzimmern? Kinder werden gehirngewaschen? Welch ein Unfug: YouTube finanziert die Kampagne lediglich, unterrichten tun weiterhin die Lehrer. Die Inhalte stammen unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Was in der Hysterie dagegen untergeht, sind Aktivitäten von Google, YouTube oder Facebook, die für die Demokratie tatsächlich bedenklich sind. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit läuft derzeit ein Pilotversuch in den USA, der YouTube-Nutzer anhand ihres Verhaltens im Netz analysiert: Lassen ihre Google-Suchanfragen auf Sympathien mit dem islamistischen IS schließen? Dann bekommen sie auf YouTube statt der gesuchten Videos in den obersten Treffern beispielsweise warnende Botschaften von IS-Aussteigern präsentiert. Ein ähnliches Projekt spült gerade in die Newsfeeds deutscher Facebook-Nutzer Links zu Artikeln, die gegen Hass gegen Flüchtlinge angehen. Keine Frage, es ist eine gute Sache, junge Menschen davon abzuhalten, in den Krieg zu ziehen oder rechte Propaganda zu entschärfen.

Aber die Methode grenzt an Manipulation: Die Nutzer glauben, sie bekämen das geliefert, was sie gesucht haben. Aber sie bekommen serviert, was ein Unternehmen als gut für sie erachtet. Die Algorithmen mögen rein objektiv urteilen, die Menschen, die sie programmieren, tun es nicht. Auch wenn die Verantwortlichen betonen, sie täten nichts anderes als die Werbeindustrie und änderten die Natur des Newsfeeds und der Google-Suche nicht grundsätzlich, sind solche Methoden fragwürdig. Dennoch werden diese Kampagnen zum Teil mit staatlichen Zuschüssen gefördert. Sollten wir als Gesellschaft diese Aufgabe tatsächlich an die großen US-Konzerne übergeben? Wer sie hat, besitzt eine bedenkliche Macht. Vor einiger Zeit zeigte Facebook in einer Studie, dass der Konzern den Ausgang von Wahlen beeinflussen kann. Google bewies ähnliches: Indem die Suchmaschine unentschlossenen Wählern in einem Experiment mehr Informationen über den einen oder den anderen Kandidaten präsentierte, beeinflusste sie, wo die Personen schließlich ihr Kreuz auf dem Stimmzettel machten. Würde Google seinen Suchalgorithmus ein klein wenig ändern und eine politische Richtung bevorzugen, könnte man es vermutlich nicht einmal beweisen.

Das Szenario ist nicht so abwegig. Politikwissenschaftler warnen schon heute vor den Filter-Bubbles, die Facebook und Google mit ihren Algorithmen um uns herum errichten. Sie können zur Radikalisierung führen. Bei Facebook denkt offenbar ein entscheidender Teil der Beschäftigten bereits darüber nach, wie sich die Macht des Netzwerks für Manipulationen nutzen ließe. Jede Woche stimmen die Mitarbeiter ab, was sie von Zuckerberg wissen wollen. Und diesen März lautete die Frage: „Welche Verantwortung hat Facebook, um Donald Trump zu verhindern?“ Wer die Demokratie retten will, sollte sich kritisch mit dieser Rolle der Technologie auseinandersetzen anstatt gegen eine im schlimmsten Fall harmlose, wahrscheinlich aber nützliche Kampagne zu polemisieren, deren Ziel der mündige Internetbürger ist.