MIT Technology Review 2/2016
S. 86
Meinung

Vergessen Sie das

Der Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau will in einem Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft Computern und Unternehmen das Vergessen lehren. Es sei der einzige Weg, um nicht in der Informationsflut zu ertrinken.

TR: Sie wollen Computern und Organisationen das Vergessen beibringen. Wozu ist das gut?

GRONAU: Wir haben die letzten 40 Jahre versucht, den Menschen durch maschinelle Informationsarbeit zu entlasten und alles gespeichert. Jetzt haben wir mehr Daten als jemals zuvor. Aber die Information wächst uns über den Kopf.

Warum Unwichtiges nicht einfach löschen?

Was gelöscht ist, ist für immer weg. Aber vielleicht brauchen wir es noch einmal und wissen es jetzt noch nicht. Ich habe daher den Eindruck, dass eine Technik wie menschliches Vergessen der bessere Weg sein könnte: Unser Gehirn legt Erinnerungen nach einem gewissen System ab. Es erhält Informationen, ohne uns aktuell damit zu belasten. Ich habe beispielsweise in der Schule Italienisch gelernt, spreche aber nicht aktiv. Als ich neulich in Italien hungrig einen Bäcker betreten habe, konnte ich auf einmal auf Italienisch Brötchen bestellen. Ich habe den Zugriffspfad wiedergefunden. Wir wollen herausfinden, wie genau dieser Mechanismus beim Menschen funktioniert und ihn Systemen beibringen.

Mit Big Data versprechen Unternehmen aber doch genau das: Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und das entsprechend darzustellen. Oder auch ein Ranking-Algorithmus wie der von Google, der die relevanten Ergebnisse herausfiltert: Wieso reicht das nicht?

Vergessen ist nicht Teil des Google-Algorithmus, er sortiert ja nur nach Kriterien. Google behält jede noch so nutzlose Information in alle Ewigkeit, auch wenn sie schon lange überholt ist. Bestimmte Ergebnisse drängeln sich nach vorn – nämlich die mit der besten Suchmaschinenoptimierung. Aber das sind nicht immer die relevantesten Ergebnisse. Auch bei Big Data fließen zuerst einmal alle Daten mit in die Auswertung, und die relevanten müssen mühsam erkannt werden. Warum kann der Computer nicht so funktionieren wie ein menschliches Gehirn? Der Mensch ist gut darin, sich im Informationsdschungel zurechtzufinden und die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt abzurufen. Wir haben sehr gute Sensoren und empfangen ständig viele Daten. Die meisten blenden wir komplett aus, sonst würden wir nicht funktionieren.

Maschinen hingegen wissen nicht, was wichtig und unwichtig ist. Zudem ändert sich diese Einschätzung ja auch, wie mein Beispiel mit dem italienischen Bäcker zeigt.

Früher gingen Mitarbeiter mitsamt ihrem Wissen eines Tages in Rente – damit hat sich das teilweise von selbst gelöst. Heute werden möglichst alle Informationen gespeichert, es gilt als wichtig, dieses Wissen zu erhalten. Wo führt das im Alltag zu Problemen?

Unternehmen arbeiten heutzutage trotz einer hohen Regelungsdichte mit brachial einfachen Ablagesystemen. Es wird einfach alles gespeichert. Jetzt werden die Probleme deutlich: Wenn beispielsweise ein Mitarbeiter eine neue Software schaffen will und sucht, wie das geht, schaut er im System und findet dort vielleicht zehn Vorschläge. Seine Kollegen ergänzen noch mal zwei oder drei. Woher soll er wissen, welcher Vorschlag zielführend ist, welche Praxis aktuell? Es wäre doch super, wenn das System die Unwichtigen vergisst.

Gibt es schon Erkenntnisse darüber, wie unser Gehirn das macht und ob sich das in Regeln formulieren lässt?

Der Mensch wendet einen pragmatischen Algorithmus an, um nicht von zu vielen Informationen überfordert zu werden. Den wollen wir entschlüsseln. Ich bin zuversichtlich, dass dabei übertragbare Regeln herauskommen. Für die nächste Generation des Wissensmanagements ist der Mensch das Vorbild für den Computer.

Wenn wir selbst es jetzt schon gut können: Wozu brauchen wir einen Computer, der es einfach nur genauso gut kann?

Weil die Menge an Informationen weiter drastisch zunimmt. Wir müssen die Informationsverarbeitung daran anpassen. Der Computer in seiner jetzigen dummen Art kennt nur speichern oder löschen. Und das Gespeicherte belastet uns immer mehr. Interview: Eva Wolfangel