MIT Technology Review 6/2016
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Internet der Tiere

Was wäre, wenn wir ein Internet der Tiere hätten?

Rund 15 Knoten aus Südwest, 25 Mikrogramm Stickoxide, 30 Mikrogramm Ozon – das klang nach einem vergnüglichen Segeltag. Und anders als früher war auf diese Daten wirklich Verlass. Vor nicht einmal zehn Jahren gab es nur vier oder fünf Wetterstationen für die ganze Seenplatte, und in Geralds Lieblingsbucht stand keine davon.

Nun aber gab es das Internet der Tiere. Ein Unternehmen war auf die geniale Idee gekommen, unzähligen Insekten Sensoren und Sender auf den Rücken zu schnallen. Sie schwirrten umher und maßen Wind, Lautstärke, Geruchsbelästigung oder Schadstoffe. Einige dieser „SmartBugs“ ließen sich über Neuroimplantate steuern. Gegen einen kleinen Aufpreis konnten Abonnenten wie Gerald sie etwa zu jedem einzelnen Papierkorb der Uferpromenade lenken. Wie viele andere gesundheitsbewusste Menschen machte er kaum noch einen Schritt vor die Tür, ohne eine fliegende Vorhut vorauszuschicken.

Tiere waren so viel besser als künstliche Sensoren: Sie versorgten sich selbst mit Futter, waren preiswert und biologisch abbaubar. Und gegen ihre in Jahrmillionen von der Evolution optimierte Motorik kam ohnehin kein Ingenieur an.

Sogar Neuro-Assistenten gab es auf dem Markt. In Geralds Wohnung etwa wuselte eine Putzratte mit einem Puschel am Schwanz durch die Ecken, in die kein noch so ausgeklügelter mechanischer Roboter hinkam.

Die ganzen lebenden Sensoren verursachten allerdings ein ziemliches Funkwellenchaos, das immer wieder zu Ausfällen führte. Deshalb gaben die Forscher ihnen gewisse evolutionäre Algorithmen mit, um sich miteinander zu vernetzen und die Nutzung des Frequenzspektrums zu optimieren. Wurden die Tiere gerade nicht gebraucht, parkte die Software sie in einer schonenden Umgebung, in der sie futtern und sich erholen konnten.

Als Gerald an der Küste entlangsegelte, fiel ihm etwas Seltsames auf: In den Nachbarbuchten sah er in letzter Zeit immer öfter Vögel, die er bis dato nur aus Büchern kannte. Und dafür immer seltener Menschen.

Am Abend durchsiebte Gerald die Messwerte, bis er einen rätselhaften Zusammenhang fand: In den vereinsamten Buchten meldeten die Sensoren stets geringfügig höhere Stickoxid- und Ozonwerte. Gleichzeitig war dort nicht nur die Dichte der Sensorinsekten höher, sie lebten auch länger. Das gleiche Muster in verschiedenen Wandergebieten. Wie konnte das sein?

Als Gerald sah, wie seine Putzratte einen großen Bogen um eine defekte Steckdose machte, fiel bei ihm der Groschen: Die Tier-Cloud hatte offenbar gelernt, dass menschenleere Gegenden der Lebensdauer zuträglich waren. Und dass Gegenden menschenleer werden, wenn die Messwerte tendenziell eine etwas schlechtere Luft vorgaukelten. Die Schwarmintelligenz baute sich so ihr eigenes Refugium auf, das auch viele vom Aussterben bedrohte Arten anlockte.

Gerald ahnte, dass ihn diese Erkenntnis als Datenanalyst berühmt machen würde. Er fasste seine Ergebnisse in einem Aufsatz zusammen und wollte sie gerade an einen renommierten Verlag schicken. Da flog ein Seeadler an seinem Fenster vorbei. Gerald löschte sein Paper und löste alle seine Cloud-Accounts auf. Dann schaute er nach dem Wetter: 13 bis 14 Knoten, warm und sonnig. Er ging segeln und gab seinen SmartBugs für den Rest des Tages frei. GREGOR HONSEL