MIT Technology Review 8/2016
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Guter Umgang färbt ab

Was wäre, wenn wir mit unserer Reputation bezahlen könnten?

Lil schaute verzweifelt um sich. Sie brauchte bis zum Wochenende nur noch 100 bis 150 RepPoints für ihren Umzug. Das konnte doch nicht so schwer sein. Doch hier im Café Boheme war offenbar schon alles abgegrast. Nein, halt, der bekiffte Erstsemester dort: Satte 80 RepPoints bot er für das Gegenlesen seiner Seminararbeit, wie Lil ihrem Brillendisplay entnehmen konnte. Thema: „Die transzendentalen Aspekte der Disney-Themenparks“. Doch der stolze Kurs machte sie misstrauisch: Wahrscheinlich war „Gegenlesen“ hier eine verbrämte Umschreibung für „Ghostwriting“, und dafür waren 80 Punkte wiederum zu wenig. Ein kurzer Blick in die Blockchain des Typen verstärkte ihren Verdacht: Seine nicht unerhebliche Reputation hatte er vor allem durch das großzügige Teilen bewusstseinsverändernder Substanzen erworben, ansonsten aber wenig auf die Reihe gekriegt.

Natürlich hätte Lil auch einfach ein Umzugsunternehmen beauftragen können, wie früher. Geld genug hatte sie ja, denn mit dem Aufkommen der Reputationsökonomie musste sie praktisch nur noch materielle Dinge wie Essen oder Kleidung mit harter Münze bezahlen. Aber es war nicht das Gleiche. Geld fühlte sich kalt an verglichen mit der Alternative, Gutes mit Gutem zu vergelten. Dienstleistungen beglich sie daher am liebsten mit RepPoints.

Was als spielerische Idee des kalifornischen Start-ups RepPoint.com begann, hatte sich in den letzten Jahren zu einer Art Parallelwährung entwickelt. Das Prinzip ist einfach: Wer jemandem hilft, bekommt dafür Reputationspunkte. Und je höher die eigene Reputation, desto mehr Punkte bekommen die, die einem helfen. Guter Umgang färbt also gewissermaßen ab.

Dank automatischer Gesichtserkennung können alle Mitglieder des RepPoint-Netzwerks gegenseitig ihre aktuelle Reputation aufrufen, wenn sie sich irgendwo begegnen. So wie beim beschlipsten Mittdreißiger, der gerade hereinkam. Oha. Er hob die Reputationsdichte im Raum deutlich an. Und er versprach sagenhafte 200 RepPoints nur für eine Begleitung in die Oper. Mist – die kleine Rothaarige am Tresen war schneller.

Das Schöne an der Reputationsökonomie: Solange man nicht irgendwo silberne Löffel klaute, stieg der Kontostand mit jedem Gefallen weiter an. Doch das tröstete Lil im Moment wenig: Sie hatte sich von ihrem Freund getrennt und währenddessen die Arbeit an ihrer Reputation ziemlich vernachlässigt. Nun waren ihr viele Freunde und Bekannte reputationsmäßig längst enteilt. Folglich lohnte es sich für viele Menschen einfach nicht, ihr beim Umziehen zu helfen. Wer will schon den ganzen Tag Möbel schleppen, wenn es mehr RepPoints bringt, einem richtigen Reputationsriesen einmal die Tür aufzuhalten?

In der Frühzeit des RepPoint-Systems gab es noch den bequemen Umweg über Geldspenden, etwa für hungernde Kinder in Afrika. So ließ sich gewissermaßen Reputation kaufen. Doch das viele Geld überforderte die Hilfsorganisationen, befeuerte die Korruption und zerstörte die letzten Reste der Wirtschaft in den armen Staaten. RepPoint.com änderte seine AGBs dahingehend, dass nur noch persönlich erbrachte Hilfen und sonstige altruistische Taten zählen.

Doch die waren zunehmend schwer an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Gerade die Nutzer der ersten Stunden, von denen es einige mittlerweile zu RepPoint-Millionären gebracht hatten, waren ständig von Leuten umlagert, die ihnen die Tür aufhalten oder die Einkaufstasche tragen wollten.

Lil wollte schon zur verstaubten Zahl-App greifen, als sie online doch noch auf ein passendes Hilfegesuch für 150 RepPoints stieß: Einmal beim Umzug helfen – aufgegeben von ihrem Ex-Freund. GREGOR HONSEL