MIT Technology Review 5/2017
S. 3
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Härter und zugfester als alle bisher bekannten Materialien, extrem leitfähig, und dann noch mit einer Molekülstruktur, die einfacher nicht sein könnte: Carbin besteht aus Kohlenstoffatomen, die wie Perlen einer Kette aneinandergereiht sind. Er ist der Wunderstoff schlechthin – einerseits. Andererseits war er 130 Jahre lang reine Theorie, denn niemand konnte ihn herstellen. Erst im vergangenen Jahr glückte dieses Kunststück einem internationalen Chemiker-Team.

Der Geniestreich zeigt, in welche Dimensionen Materialforscher inzwischen vorstoßen – und dass sie wahrscheinlich erst am Beginn einer unglaublichen Entwicklung stehen. Denn mit mächtigen Computersimulationen übertragen Wissenschaftler die Welt der Bits und Bytes auf die Welt der Atome und Moleküle. Bald dürften ihnen sogar Quantencomputer dabei helfen, Materialien zu finden, die heute noch als unmöglich gelten. Wie die Geschichte des Carbins zeigt, werden diese Stoffe keineswegs reine Theorie bleiben. In unserem Fokus ab Seite 82 lesen Sie, wo die Entwicklung hingeht.

Die neuen Materialien werden das Erscheinungsbild der Welt verändern. Aber sie werden es Atom für Atom tun und damit für die meisten Menschen unsichtbar. Jonty Hurwitz hat es dennoch geschafft, diese Entwicklung gewissermaßen greifbar zu machen. Der britische Künstler kreiert rätselhafte Skulpturen, die erst in Zerrspiegeln ihr wahres Gesicht zeigen – und ohne Computersimulation sowie 3D-Druck undenkbar wären. Hurwitz gibt damit dem Fortschritt eine Gestalt. Wir zeigen seine Werke ab Seite 70. Im Interview erklärt er, wie sie entstanden.

Aber die neue Schöpfungskraft hat auch ihre dunklen Seiten. In den vergangenen Jahren haben Forscher einen Weg gefunden, das Erbgut von Lebewesen einfacher umzuschreiben als je zuvor. Nun zieht das Verfahren namens Genome Editing in die Hobbylabore ein. Im Internet können Neugierige Gen-Bausätze bestellen, um Bakterien gegen Antibiotika resistent zu machen. Unser Autor Jens Lubbadeh hat einen ausprobiert. Sein beunruhigendes Fazit lesen Sie ab Seite 58.

Ich begrüße Sie in unserer Mai-Ausgabe.

Ihr

Robert Thielicke

Unterschrift