MIT Technology Review 6/2017
S. 64
TR Mondo

USA

Computer übernimmt Bankgeschäfte

Illustration: Grafilu

Zu ihrer Hochzeit im Jahr 2000 beschäftigte die Abteilung für Kassa- und Aktienhandel im New Yorker Hauptquartier von Goldman Sachs rund 600 Händler. Heute sind nur noch zwei von ihnen übrig. Automatisierte Handelssysteme haben für die Investmentbank das Gros der Arbeit übernommen – unterstützt von 200 Computertechnikern. Goldman-Sachs-Finanzchef Marty Chavez erläuterte diese Entwicklung jetzt bei einem Symposium der Harvard University über die Auswirkungen der Datenverarbeitung auf die Wirtschaft.

Das Schicksal der Aktienhändler ist ein Beispiel für diese Umgestaltung, die viele Firmen an der Wall Street derzeit durchmachen. Ausgelöst wurde der Trend durch die Einführung des computergesteuerten Handels. In den vergangenen fünf Jahren eroberte er weitere Bereiche des Finanzwesens.

Bereits 45 Prozent der Erlöse aus Cash-Anleihen und Aktien erwirtschaftet laut der Londoner Beratungsfirma Coalition inzwischen der elektronische Handel. Nachdem viele Angestellte der unteren Gehaltsklassen längst durch Maschinen ersetzt worden sind, trifft es nun zunehmend das hoch bezahlte Personal. Im Durchschnitt erhalten Händler bei den großen Investmentbanken Coalition zufolge rund 500000 US-Dollar im Jahr. Etwa 75 Prozent der an der Wall Street geleisteten Vergütungen gingen an diese Gruppe, sagt Amrit Shahani, Analysechef von Coalition.

Aber die Automatisierung dürfte weiter fortschreiten: Zuerst wurden Handelsalgorithmen dort genutzt, wo der Preis der Ware auf dem Markt einfach zu bestimmen war. Nun werden kompliziertere Vorgänge wie Währungshandel und Kreditgeschäft ins Visier genommen. Beides wird nicht über die Börse, sondern über andere Netzwerke realisiert. Für diese Geschäfte werden Algorithmen ausgearbeitet, die so exakt wie möglich das Vorgehen eines menschlichen Händlers nachahmen, berichtet Shahani.

Goldman Sachs hat bereits angefangen, das Währungsgeschäft zu automatisieren, und herausgefunden, dass ein Computertechniker vier Händler ersetzen kann. Chavez zufolge sind etwa 9000 Mitarbeiter, also ein Drittel der Gesamtbelegschaft der Firma, inzwischen Computertechniker.

Als Nächstes plant Goldman Sachs die Automatisierung des Investmentbankings. Für das Unternehmen würde dies eine große Ersparnis bedeuten. Investmentbanker sind bei Großbanken etwa für Firmenzusammenschlüsse und Käufe zuständig und verdienen nach Auskunft von Coalition rund 700000 US-Dollar im Jahr. Ihre Arbeit basiert auf menschlichen Fertigkeiten wie der Kunst zu verkaufen und Beziehungen aufzubauen. Trotzdem hat die Firma bereits 146 Schritte kategorisiert, die bei jedem Angebot eine Rolle spielen. Viele davon seien für die Automatisierung prädestiniert, sagt Chavez.

Goldman Sachs nutzt darüber hinaus seit 2016 die Online-Plattform „Marcus“. Die Bank, die früher nur Firmen und Superreiche bediente, bietet nun Konsumentenkredite an. Abgewickelt wird der Service indes ohne menschliche Beteiligung allein von einer Software.

So leeren sich die Räume des New Yorker Hauptquartiers langsam von Mitarbeitern. Profitieren werden von der Entwicklung die verbleibenden Topverdiener. „Das Gehalt der Managementebene bei Goldman wird vielleicht sogar noch steigen, wenn es weniger Menschen auf den niedrigeren Einkommensstufen gibt, mit denen der Profit zu teilen ist“, sagt Tom Davenport vom Babson College in Massachusetts.

NANETTE BYRNES