MIT Technology Review 9/2017
S. 78
TR Mondo

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Kenia

Algen gegen Lebensmittelknappheit

Bei einer Durchschnittstemperatur von 35 Grad herrschen für die Spirulina-Algen ideale Bedingungen. Foto: Thriving Green

Der dürre, heiße Nordosten Kenias gleicht vielerorts einer kargen Mondlandschaft. Besonders rund um den Turkana-See am Dreiländereck mit Äthiopien und dem Südsudan wächst kaum etwas. Das Gewässer ist der größte Wüsten- und Natronsee der Welt, und Landwirtschaft an seinen Ufern ist praktisch unmöglich. Die Folgen sind eine unsichere, schlechte Ernährung für die Bewohner der Region. Was es zu essen gibt, enthält oft zu wenig lebenswichtige Vitamine, Mineralien und Eiweiße. Auch deswegen liegt die Kindersterblichkeit bei 25 Prozent. Nun droht den Menschen dort sogar eine Hungersnot. Rund 3,5 Millionen Kenianer sind nach Angaben der Vereinten Nationen bald nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen.

Neun Studenten verschiedener Fachrichtungen von der Uni Regensburg möchten mit ihrem Projekt „Thriving Green“ dieses Problem lindern. Ihre Waffe im Kampf gegen Mangelernährung ist ein Algengewächs. „Die Spirulina-Alge hat einen enorm hohen Energiegehalt, wichtige Nährstoffe und Vitamine“, sagt Alexander Zacharuk, Biologe und Leiter des sozialen Unternehmens. Außerdem seien die für Landwirtschaft schwierigen Bedingungen am Turkana-See für die Algenzucht optimal: „Die Nähe zum Äquator verhindert jahreszeitliche Schwankungen, das salzige und alkalische Wasser bildet die optimale Umwelt für Spirulina.“ Im April errichteten die Regensburger eine erste Farm auf dem Gelände der Mission in Nariokotome – in nur drei Wochen.

Seitdem werden die Algenkulturen in drei Betonbecken mit nährstoffreichem Wasser gezüchtet, betreut vor Ort durch zwei Angestellte von Thriving Green. Für einen optimalen Gasaustausch sorgt eine künstlich erzeugte Strömung. Zur Ernte werden die Algen abgefiltert, getrocknet und zu einem Mehl verarbeitet. Dank der Durchschnittstemperaturen von 35 Grad wächst Spirulina enorm schnell, ein einzelner Erntezyklus benötigt nur 25 Tage.

In der Ernährungswissenschaft gelten solche Algen als hochwertiger Nahrungszusatz. Nur 100 Gramm Spirulina haben 290 Kilokalorien, 60 Gramm Eiweiß, etwa sechsmal mehr als ein Ei – dazu wichtige Vitamine, Mineralien und ungesättigte Fette. Schon 1974 hatte die Weltgesundheitsorganisation das Potenzial erkannt. 2003 gründeten die Vereinten Nationen sogar eine Behörde, um den Nutzen von Spirulina gegen eine weltweite Fehlernährung weiter zu untersuchen.

Seitdem werden die Menschen auch in Kenia ermutigt, Spirulina-Farmen zu errichten. Der Unternehmer Jagpal Sandhu startete mit seiner Anlage 2006 in Kisumu am Victoriasee. „Vor allem die nichtstaatlichen Hilfsorganisation, die sich hier um Aids-Patienten kümmern, kaufen Spirulina von mir“, berichtet Sandhu. Denn das Eiweiß und die Vitamine der Alge gleichen Mangelerscheinungen bei den HIV-Infizierten aus, besonders auch jene, die von der Therapie verursacht werden. Inzwischen hat der britische „Nasio Trust“ im Westen Kenias den Bau von Spirulina-Farmen in sein Programm zur Bekämpfung von Aids aufgenommen.

Die Anlage des deutschen Vereins Thriving Green im Nordosten des Landes begleitet Alfred Seyee als Spirulina-Experte. Er brachte auch die Mutterkulur nach Nariokotome. „Um Fehlernährung zu bekämpfen, müssen wir noch mehr auf nichttraditionelle Landwirtschaft setzen, unterstützt von Biotechnologie“, sagt der kenianische Farm-Manager.

Sobald die Probephase der durch Spenden und Preisgelder finanzierten Farm abgeschlossen ist, kann sie bis zu 400 Menschen mit Spirulina versorgen. Aber es soll noch mehr Produktionsstätten als Hilfe zur Selbsthilfe geben: Die Regensburger Studenten planen bereits, die Anbaufläche zu vergrößern, weitere Standorte am See in Betrieb zu nehmen – und die Farmen schließlich an einheimische Betreiber zu übergeben.

ROMAN GOERGEN

NIEDERLANDE

Klinische Tests ohne Patienten

Hans Clevers will Organoide benutzen, um die Wirksamkeit eines teuren Medikaments vorab zu testen. Foto: Hubrecht Institute/Utrecht University

Eine Entscheidung des niederländischen Gesundheitsministeriums rief Hans Clevers auf den Plan. Die amerikanische Biotechfirma Vertex wollte ein neues Mittel gegen Mukoviszidose auf den Markt bringen, doch das Ministerium brach im Frühjahr die Verhandlungen zunächst ab, weil es zu teuer und nicht wirksam genug sei. Diesen Schritt hielt Clevers, Professor für Molekularbiologie mit einer eigenen Forschungsgruppe am Hubrecht Institute in Utrecht, für zu radikal. Also startete er mit Unterstützung niederländischer Versicherungen ein ungewöhnliches Projekt: Er will aus dem Zellmaterial der 1500 betroffenen Mukoviszidose-Patienten organähnliche Strukturen im Labor herstellen und das Medikament an diesen testen. So will er zeigen, welchen Patienten das Medikament wirklich hilft.

Entwickelt wurde Orkambi für all jene, die von einer der etwa 2000 die zystische Fibrose (Mukoviszidose) verursachenden Genmutationen betroffen sind. Dazu gehört etwa die Hälfte aller Mukoviszidose-Patienten. Laut Vertex sollten sie alle von dem Medikament profitieren. In Deutschland steht das Präparat bereits zur Verfügung und kostete voriges Jahr rund 13000 Euro monatlich. Niederländische Wissenschaftler und Patientenorganisationen sagen allerdings, dass die Wirkung keineswegs so durchschlagend ist, wie von Vertex versprochen.

Clevers führt nun eine Koalition aus Patientengruppen, Versicherungen und Biologen an, um den Wirkstoff zu retten. Die Versuche mit sogenannten Organoiden sollen einen gezielten, preisbewussten Einsatz des Medikaments ermöglichen. „Das Organoid vertritt den Patienten wie ein Avatar“, sagt Hans Clevers. „Am Ende würde man das Medikament nur jenen Patienten geben, die wirklich davon profitieren.“

Sollte Clevers’ Plan Wirklichkeit werden, könnte er einen signifikanten Wandel einleiten. Zum ersten Mal würden Versuche an Mini-Organoiden und nicht nur Bluttests oder die Symptome allein bei der Entscheidung berücksichtigt, wer die weltweit teuersten Präparate erhält.

Dem Labor des Wissenschaftlers ist es bereits gelungen, aus dem Rektum von Patienten Zellproben zu entnehmen und daraus kleine Stücke von Darmgewebe zu züchten – inklusive der Krypten und Zotten, wie man sie im unteren Darmbereich beim Menschen findet. Mittlerweile vermarktet die Nonprofit-Organisation „HUB Foundation for Organoid Technology“ Clevers’ Verfahren in den Niederlanden. Zu den Kunden zählt auch Vertex. Die Bostoner Firma hat bereits in den Niederlanden sowie an einem Standort in Israel zwei klinische Studien an Organoiden gestartet. Ziel ist auch hier herauszufinden, wie sie auf die Medikamente reagieren und welche Patienten am Ende profitieren werden.

Trotzdem beharrt Vertex im Falle von Orkambi darauf, dass eine große Studie mit Freiwilligen der „Goldstandard“ sei und nicht durch Ergebnisse mit Organoiden ersetzt werden sollte. „Die Wissenschaft steht hinsichtlich der Organoide noch am Anfang“, sagt Mark Higgins, leitender medizinischer Direktor der Abteilung für zystische Fibrose bei Vertex. Die Firma sieht die Rolle der Organoide eher darin, herauszufinden, ob sich der Personenkreis der Nutznießer ihrer Medikamente erweitern lässt. Bei Kalydeco – Vertex’ zweitem Mukoviszidose-Medikament, das einem von 25 Patienten helfen kann – war dies tatsächlich der Fall. Hier stellte Clevers fest, dass das Organoid eines Patienten mit einer besonders seltenen Mutation auf das Präparat ansprach. Als der junge Mann die Arznei erhielt, besserte sich sein Zustand Clevers zufolge „innerhalb von Stunden“.

Bislang weiß man allerdings nicht, wie gut die Organoide die Langzeitwirkung bei einem Patienten prognostizieren können. „Es ist definitiv nicht klar, wie akkurat sie arbeiten“, sagt Finn Hawkins, der selbst an der Boston University mit Lungen-Organoiden arbeitet. „Aber ich denke, es ist die Zukunft der Medizin.“

ANTONIO REGALADO

ITALIEN

Röntgenblick enthüllt verborgene Textpassagen

Foto: Kontrolab/ Getty Images
Während des Ausbruchs des Vesuv wurden die Schriftrollen einer ganzen Bibliothek verkohlt. Die römischen Forscher stellten jetzt 3D-Versionen von Teilen der Rollen mit Röntgenbildgebung her (oben l.). Anschließend lösten sie Blocks aus den Rollen heraus (oben Mitte) und dann einzelne Blätter (oben r.), die zugleich im Computer geglättet wurden und auf denen teilweise Textpassagen gefunden wurden. Foto: CNR Nanotec Rom

Im Jahr 79 nach Christus brach der Vesuv das letzte Mal aus. Er begrub die antiken Städte Pompeji und Herculaneum unter sich. Im Jahr 1752 förderten Ausgrabungen in Herculaneum eine ganze Bibliothek zutage. Die Sammlung enthielt eine große Anzahl an Papyrusrollen mit philosophischen Texten, viele davon von den Epikureern wie Philodemos von Gadara.

Es ist die einzige komplett erhaltene Bibliothek aus der Zeit der Antike. Viele der Schriftrollen wurden leider bei den Ausgrabungen und später bei der Untersuchung durch Wissenschaftler zerstört, aber rund 1800 Exemplare haben überlebt. Die meisten von ihnen befinden sich heute im Museo Archeologico Nazionale in Neapel.

Die Texte zu entziffern, stellt jedoch eine Herausforderung dar. Während des Vulkanausbruchs wurden die Rollen in einem sauerstofffreien Raum erhitzt, verkohlt, zusammengepresst und teilweise auch geschmolzen. So sind sie heute nicht nur meist sehr zerbrechlich, sondern auch fest aufgewickelt, in sich verdreht und verformt.

Bei rund 800 der Papyri haben Archäologen und Wissenschaftler inzwischen versucht, sie zu entrollen – mit unterschiedlichem Erfolg. Viele zerbröckelten bei der Prozedur, ein oder zwei explodierten sogar. Aber selbst in Fällen, bei denen das Entrollen gelang, verblasste jegliche Schrift, sobald sie zum ersten Mal nach fast 2000 Jahren mit Sauerstoff in Berührung kam.

Deshalb haben sich Archäologen in den vergangenen Jahren zu einer vorsichtigeren Herangehensweise entschlossen. Sie hoffen, die Schriften mit modernen bildgebenden Verfahren virtuell entrollen und dabei die versteckten Texte zugänglich machen zu können.

So berichten Inna Bukreeva und ihr Team vom Istituto di Nanotecnologia in Rom von beträchtlichen Fortschritten. Die Forscher konnten in ungeöffneten Rollen aus Herculaneum viele Details erspähen: „Wir stellten zum ersten Mal verschiedene umfangreiche Textteile wieder her.“

Die Entschlüsselung beginnt mit der topografischen Erfassung der Papyrusrolle an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble per Röntgenbildgebung. Das Verfahren stellt eine 3D-Version der Rolle her, in der die einzelnen Blätter identifiziert und separiert werden können. Nun entsprechen die Rollen aber nicht der idealen Form eines Zylinders, von der sich einzelne Blätter leicht lösen ließen, sondern sind eingedrückt und verkrümpelt. Deswegen haben die Forscher zunächst nach Regionen in den Papyri gesucht, die solch einer idealen Form nahekommen. Der Vorteil ist, dass mehrere übereinanderliegende Schichten dieselbe Geometrie aufweisen.

Ist ein Blatt herausgelöst, wird es anschließend vom Programm geglättet, sodass die Wissenschaftler nun nach Zeichen von Schrift suchen können. Dabei kommt ihnen die Struktur des antiken Papiers zu Hilfe. Das Material besteht aus kreuzweise verlegten Schichten von Papyrusfasern, die ein Muster mit senkrechten Linien hinterlassen haben. Sämtliche Abweichungen müssen somit durch Biegen, Drehen und Knautschen des Papyrus entstanden sein und können deshalb von der Software entfernt werden. So würden auch eventuelle Schriftzeichen deutlicher hervortreten. Darüber hinaus können die Forscher mit dem Röntgenverfahren nach kleinen Vertiefungen suchen, die der Schreibprozess hinterlassen hat.

Ihre Technik testeten die Forscher jetzt an zwei Papyri aus der Sammlung und fanden interessante Stellen: „Zum ersten Mal wurden diverse Textabschnitte mit bis zu 14 Zeilen Länge identifiziert“, teilte Bukreevas Team mit. Die Wissenschaftler erhoffen sich am Ende neue Einblicke in antike Philosophie und klassische Literatur.

quelle: https://arxiv.org/abs/1706.09883