MIT Technology Review 1/2018
S. 88
Meinung
Bücher

Leben ohne Schwerkraft

Scott Kelly war 340 Tage am Stück auf der ISS – so lange wie kein Amerikaner zuvor. Nun schildert er anschaulich und witzig seine Erlebnisse an Bord.

SCOTT KELLY: ENDURANCE. A YEAR IN SPACE, A LIFETIME OF DISCOVERY Knopf, 400 Seiten, 14,99 Euro (E-Book: 11,69 Euro)

Nach einem Jahr im All sitzt Scott Kelly endlich wieder bei seiner Familie am Tisch. Doch es fällt ihm schwer, sich an die Schwerkraft zu gewöhnen. Seine Fußgelenke sind so geschwollen, dass er seine eigenen Knöchel nicht mehr ertasten kann. Und jedes Mal, wenn er sein Glas absetzt, hält er Ausschau nach einem Stück Klettband, das es am Platz hält.

Scott Kelly, 53, war mit vier Missionen insgesamt 520 Tage im All – davon zuletzt 340 Tage am Stück. Damit ist er US-Rekordhalter. Seine Erlebnisse hat er nun in einem bisher nur auf Englisch erschienenen Buch zusammengefasst.

Welche gesundheitlichen Folgen genau die Zeit auf der ISS hatte, darüber ist leider nicht viel zu erfahren – die Untersuchungen laufen noch. Trotzdem ist das Buch höchst lesenswert. Dramatischer Höhepunkt ist ein Außeneinsatz, bei dem Scott nur mit Mühe zurück in die Luftschleuse findet. Aber genauso interessant sind die vielen kleinen Rituale des Alltags, die Scott anschaulich und detailreich beschreibt.

Jeden Freitagabend etwa trifft sich die gesamte Besatzung zu einem gemeinsamen „Festmahl“ im russischen Modul. Der Leser erfährt nicht nur, was es zu essen gibt, sondern auch, dass Russisch sowohl für Flüche als auch für Freundschaften ein weitaus komplexeres Vokabular hat als Englisch.

Solch entspannte Momente sind allerdings selten. Die Arbeitszeit ist bei der Nasa in Fünf-Minuten-Blöcke unterteilt. Und selbst beim Schlaf lässt der Weltraum keine Ruhe: Die kosmische Strahlung erzeugt auch bei geschlossenen Augen Lichtblitze auf der Retina. Vom Lärm der Lüfter lenken sich die Menschen an Bord gern mit Aufnahmen von Vogelgezwitscher oder plätscherndem Wasser ab, ein Kosmonaut sogar mit dem Summen von Moskitos. „Ich finde, das geht etwas zu weit“, kommentiert Scott trocken.

In einem ständigen Clinch liegt Scott mit dem Kohlendioxid. Die Grenzwerte auf der ISS sind dreimal so hoch wie auf U-Booten der Navy. Die Folgen sind Kopfschmerzen, Verstopfung und Reizbarkeit. Doch die Aufbereitungsanlagen sind „zickige Biester“, die regelmäßig ausfallen. Sie zu zerlegen, ist eine tagesfüllende Angelegenheit – zumal Einzelteile gern auf Nimmerwiedersehen davonschweben, wenn sie nicht sofort mit Klebe- oder Klettbändern fixiert werden. Die Rekordzeit, die ein Ausrüstungsgegenstand verschwunden blieb, liegt bei acht Jahren.

Scott gibt auch reichlich Einblick in sein Gefühlsleben – über die Trennung von seiner Familie oder über die euphorischen Momente während eines Außeneinsatzes, an denen er sich fühlte wie Leonardo DiCaprio am Bug der „Titanic“: als König der Welt. Zudem zieht er immer wieder pointierte Vergleiche: In der Schwerelosigkeit einen Koffer zu packen sei so, als sei er an der Decke festgeschraubt. Und jemandem aus einem Raumanzug zu helfen sei wie ein Pferd zur Welt zu bringen. G. HONSEL

Science-Fiction

Lebendige Vergangenheit

Als der Kommissar Philipp Nix zur Leiche eines seltsam deformierten jungen Mannes gerufen wird, vermutet er zunächst, der Mann habe wegen seiner Behinderung Selbstmord begangen. Doch die Anthropologen Max Stiller und Sarah Weiss stellen fest, dass er nicht behindert war, sondern ein halber Neandertaler – Resultat eines illegales Experiments. In seinem neuesten Thriller greift Jens Lubbadeh die Fortschritte im Gene Editing und einen grassierenden Gesundheitswahn auf. Tendenzen, die der Autor in einem klassischen Thriller verarbeitet – inklusive finsterer Verschwörung. Das ist spannend gemacht, allerdings schimmert der Wissenschaftsjournalist in ihm dabei gelegentlich zu stark durch. WOLFGANG STIELER

Jens Lubbadeh: „Neanderthal“, Heyne Verlag, 529 Seiten, 14,99 Euro (E-Book: 11,99 Euro)

geschichte

Genie, Wahnsinn, aber auch Tragik

Forschung, für jedermann verständlich gemacht. Das ist das Motiv für Richard von Schirachs Porträts, die er bekannten, aber auch kaum beachteten Naturwissenschaftlern widmet. Das Ergebnis sind anschauliche, ungeheuer spannende Kurzbiografien. Darin trägt der Sinologe dem Leben der Protagonisten, aber auch ihren herausragenden wissenschaftlichen Errungenschaften Rechnung. Die in diesem kuriosen Who’s who versammelten extravaganten Persönlichkeiten reichen von dem menschenscheuen Briten Henry Cavendish über den pedantischen Deutschen Gustav Kirchhoff bis hin zum arroganten Amerikaner Robert Oppenheimer: Der wollte übrigens seinen Professor vergiften. inge wünnenberg

Richard von Schirach: „Der Mann, der die Erde wog”, Bertelsmann, 316 S., 22 Euro (E-Book:17,99 Euro)

Klassiker neu gelesen

Science Fascism

Herbert George Wells (1866–1946) gilt als Urvater der Science-Fiction. Weniger bekannt ist, dass er ursprünglich durch ein Sachbuch berühmt wurde: „Anticipations“ von 1901, eine Vorschau auf das Jahr 2000. Seine heutigen Klassiker „Die Zeitmaschine“, „Die Insel des Dr. Moreau“, „Der Unsichtbare“ und „Krieg der Welten“ hatte Wells damals bereits veröffentlicht, aber erst mit „Anticipations“ gelang ihm der Durchbruch.

H. G. Wells: „Anticipations: Of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human life and Thought“, Dodo Press, 192 Seiten, 17,99 Dollar, E-Book: kostenlos (Project Gutenberg)

Wer sich nicht vom ausschweifenden viktorianischen Englisch abschrecken lässt, findet in dem Buch erstaunlich weitsichtige Vorhersagen dicht neben (aus heutiger Sicht) bemerkenswert engstirnigen. So sieht Wells etwa die Zersiedelung der Landschaft durch schnelle Züge und Autos voraus. Außerdem kommt er zum durchaus zutreffenden Schluss, dass Familien dank neuer Technologien keine Hausangestellten mehr brauchen werden. Dann aber kreist er lange um die Frage, was das für die Hausfrau der Zukunft bedeutet. Berufstätige Frauen lagen offenbar jenseits seines Vorstellungsvermögens.

Politisch prophezeit Wells die Verschmelzung westlicher Staaten zu einer „Neuen Republik“, worin man mit etwas Wohlwollen die EU und die Globalisierung erkennen kann. Allerdings zerfalle diese Gesellschaft laut Wells in vier Klassen: reiche Nichtsnutze, fähige Technokraten, unproduktive Bürokraten sowie eine Unterschicht aus Abgehängten und Nicht-Weißen.

Obwohl sich Wells als Sozialist betrachtet und zu den Gründern der Labour Party zählt, plädiert er nicht für eine soziale Revolution, sondern für Eugenik und Euthanasie. „Es wurde offensichtlich, dass große Teile der menschlichen Population als Ganzes minderwertig sind“, schreibt er. „Die Fortpflanzung von Kindern, die durch Umstände ihrer Abstammung körperlich oder geistig krank sein müssen, ist die abscheulichste aller vorstellbaren Sünden.“ Also sei es die vornehmste Aufgabe kommender unsentimentaler Eliten, diesen „Abgrund“ an der Fortpflanzung zu hindern oder gleich umzubringen.

Dass Wells’ Vorstellungen seinerzeit weitverbreitet waren, dass er sich später davon distanziert und für die Menschenrechte eingesetzt hat – all dies mag man als mildernde Umstände gelten lassen. Trotzdem ist es lupenreiner Faschismus, den Wells hier wiederholt und explizit zu Papier bringt. GREGOR HONSEL